Collagen von Herta Müller in Neuhardenberg

Poetische Wort-Bilder der Literaturnobelpreisträgerin

Von Herta Müller gesammelte ausgeschnittene Wörter
Von Herta Müller gesammelte ausgeschnittene Wörter © Claudia Wheeler
Von Claudia Wheeler · 16.09.2018
Seit Jahrzehnten schneidet Herta Müller beim Lesen Wörter aus - und komponiert daraus Collagen. Die Nobelpreisträgerin hat so eine eigenständige Art des Schreibens entwickelt. Diese Wort-Bilder zeigt nun eine Ausstellung in Neuhardenberg.
Herta Müller steht vor einer Vitrine, in der hunderte ausgeschnittener Wörter liegen. Sie sind übrig geblieben, sagt sie. In einer Kiste, die nach einem Umzug nicht ausgepackt wurde. Eigentlich braucht sie diese Wörter nicht mehr: "Aber schon beim Hinlegen habe ich mir wieder welche genommen, weil ich dachte, die muss ich unbedingt haben, denn wer weiß, wie lange die dort liegen. Es ist irgendwie eine, ja, eine Obsession."
Die Schriftstellerin und Nobelpreisgewinnerin Herta Müller.
Die Schriftstellerin und Nobelpreisgewinnerin Herta Müller sucht beim Lesen Wörter.© picture-alliance / dpa / Laszlo Beliczay
Und ein unstillbarer Hunger, fügt sie hinzu. Sie kann gar nicht mehr anders, als beim Lesen Wörter zu suchen. Seit fast 30 Jahren schneidet sie aus Zeitungen, Magazinen, Katalogen und Prospekten Wörter aus und ordnet sie alphabetisch in Schubkästen. Daraus komponiert sie poetische Collagen:
"Manchmal sind so zwei, drei Finger hoch in den Schubladen die Wörter, und ich suche ein Wort und ich finde es. Oder man findet es nicht und man findet es am Tag danach, wenn ich es nicht mehr brauche, dann finde ich es. Es ist so mit allen verlorenen Gegenständen, denn eigentlich sind sie ja verloren zwischen den vielen anderen. Sie sind verloren, aber sie sind auch aufgehoben. Also manchmal denke ich, sie sind auch in einer Masse wie in einem Bahnhof. Sie warten, dass sie irgendwohin abfahren können. In einen Text."

Kam ein Wind so frisch wie Milch so alt wie Lehm wurde anschmiegsam und sah mich von Innen an

Herta Müllers Collagen sind nicht größer als eine Postkarte. Und ein Bild gehört immer zu den Wortcollagen dazu. Manchmal dauert es Wochen, bis eine Collage fertig ist. Denn sie komponiert ihre Wort-Bilder. Die Schriftgröße, die Typografie, die Farbe, das Papier. Alles muss sich zu einem Gesamtbild fügen: "Ich glaube, wichtig ist der Takt. Der Klang und der Takt sind immer sehr wichtig bei jedem Satz. Die Reime müssen sich verstecken - in den Zeilen und dürfen nicht so auftrumpfen."

An der Wolke hängt die freigewordene Brosche der toten Freundin es ist eine Kirsche rubin mit gold bis ein Wind sie holt

"Es ist wie mit dem Schreiben. Wenn das mal anfängt, hört es nicht mehr auf, bis es fertig ist. Ich kann das dann auch nicht nebenher machen. Das besetzt mich ganz. Selbst wenn ich auf der Straße gehe, sag' ich mir das in den Kopf und weiß, stimmt jetzt der Takt oder nicht oder es fällt mir dann noch was anderes ein, dann erwarte ich es kaum, dass ich nach Hause komme, dass ich das ausprobiere. Das ist auch das Umwerfende. Du hast schon fast alles fertig und dann kommt plötzlich ein anderer, schräger Gedanke hinein und er schmeißt dir alles um.", sagt Herta Müller.

In ihren Romanen geht es immer wieder um das Leben in der Diktatur, um Repressalien, Ausweglosigkeit und Angst. Die bedrückende Atmosphäre, die ihre Romane bestimmen, verdichtet sich in den Collagen auf surreale Weise:

Ein wenig schräg spiegelte sich unser Herrscher in seiner Kiste aus kugelsicherem Glas wir hatten den zwanzigsten Sommer am Hals und Augen wie geschluckte Milch vielleicht nicht einmal das

Doch es gibt auch viele leichte Collagen - mit einem leisen Humor. Herta Müller lässt sich von den gefundenen Wörtern leiten und auch vom Zufall:

Zeitweise kroch das Schlüsselloch die Tür hoch es war eine karierte Ameise

"Alles blieb an den Händen kleben, wenn man in Rumänien zum Beispiel eine Zeitschrift hatte, das Vokabular war sowieso ideologisch und das ist für mich auch immer noch eine sehr große Freiheit. Ich kann richtig auch Freiheit ausüben." Ihr würde es nie in den Sinn kommen, ohne Schere und Klebstift zu dichten. Um zu reimen, sagt sie, braucht sie gefundene Wörter. Es gibt Wörter, die sie liebt, andere brauchen ihre Zeit:
"Ich würde das Wort 'Koffer' immer ausschneiden, egal wie oft ich es finde. Das Wort 'Bahnhof' auch. 'Dorf' würde ich immer ausschneiden, 'Stadt' auch. Und dann gibt es Wörter, die habe ich zum Beispiel ganz lange nicht ausschneiden wollen, weil ich dachte, das ist ideologisch, das hat in einem literarischen Text nichts zu tun. Und dann plötzlich, ein paar Jahre später kommt das Wort 'Diktator' vor. Wo ich dachte, gerade das. Jetzt kriegt er's! Ich schneid' ihn aus. Und seither schneide ich natürlich jeden 'Diktator' aus."

Im Augenblick arbeitet Herta Müller ausschließlich an ihren Collagen. Über tausend hat sie schon geklebt. Gerade ist eine neue Serie entstanden, die sie Liu Xia, der Witwe des chinesischen Autors Liu Xiaboo, gewidmet hat. Und dann steht sie wieder vor der Vitrine und schaut auf den Berg ausgeschnittener Wörter. Wahrscheinlich weiß sie schon, dass sie diese am Ende der Ausstellung doch wieder mit nach Hause nehmen wird - in einer Kiste. Und was ist mit einem neuen Roman?
"Das weiß ich nicht. Das wird sich zeigen. Das hab ich vorher nie gewusst. Ich habe nie vorher gesagt, ich mache jetzt das oder das. Ich habe nie nach Plan geschrieben, komischerweise. Ich hatte immer keine Wahl. Weil die Sachen sich aufgedrängt haben."
13.07.2018, Berlin: Anlässlich des 1. Todestages von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo nehmen der frühere Bundespräsident Joachim Gauck und die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller an einer Gedenkveranstaltung in der Gethsemanekirche im Bezirk Prenzlauer Berg teil
Anlässlich des ersten Todestages von Liu Xiaobo nahm Herta Müller an einer Gedenkveranstaltung in Berlin teil.© dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm

Land wie eine dünne Brotscheibe ich sollte fort von hier und bleibe die Zeit ist ein spitzer Kreis ich weiß

Herta Müller trennt sich nicht von ihren Collagen. Nur einmal hat sie eine versteigert, für einen guten Zweck. Zu Hause liegen sie im Regal. Und so wird es auch bleiben. Denn wie hat ihre Mutter schon gesagt: "Das frisst ja kein Brot."

Die Ausstellung "Zeit ist ein spitzer Kreis" mit den Collagen von Herta Müller ist bis zum 2.12.2018 im Schloss Neuhardenberg zu sehen.

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