Clint Smith: „Was wir uns erzählen“

Auf den Spuren der Sklaverei

06:55 Minuten
Cover des Buchs "Was wir uns erzählen" von Clint Smith.
© Siedler Verlag

Clint Smith

Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane

Was wir uns erzählen. Das Erbe der Sklaverei – Eine Reise durch die amerikanische GeschichteSiedler Verlag, München 2022

424 Seiten

26,00 Euro

Von Carsten Hueck · 20.06.2022
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Was die Sklaverei angerichtet hat, ist bis heute in den USA deutlich sichtbar. Der Journalist und Dichter Clint Smith ist auf eine lange Reise gegangen und hat ein bewegendes und kraftvolles Buch darüber geschrieben.
In den USA hat das Buch „Was wir uns erzählen“ des Journalisten, Dichters und Autors Clint Smith im vergangenen Jahr breite Aufmerksamkeit erhalten: Es stand an erster Stelle der New York Times-Bestsellerliste, erhielt mehrere Preise, war für weitere nominiert und wurde von Barack Obama zu einem seiner Lieblingsbücher erklärt.
Für den 1988 in New Orleans geborenen Autor ist es ein Debüt: Smith hatte zuvor Gedichte sowie zahlreiche Artikel und Essays veröffentlicht. „Was wir uns erzählen“ hingegen ist ein außergewöhnliches Sachbuch. Es verbindet auf eindrucksvolle Weise schriftstellerisches Erzählen mit der Kunst der Reportage, persönlichen Zugang mit faktenbezogener Recherche, soziologische Fragestellungen mit Poesie und Persönliches mit Gesellschaftlichem. Es ist Geschichtsbuch und zugleich eine lebendige Momentaufnahme US-amerikanischer Gegenwart.

Freiheitsstatue mit zerbrochenen Ketten

Dass sich diese Gegenwart von der Vergangenheit nicht trennen lässt, ist eine sich stets erneuernde Erkenntnis bei der Lektüre. Die New Yorker Freiheitsstatue beispielsweise gilt als Verheißung für Menschen, Gleiche unter Gleichen zu sein; als Symbol der Hoffnung auf selbstbestimmtes Leben, als Ausdruck der Freiheit in einem Land, das sich im Zeichen der Sklavenbefreiung einst in einen jahrelangen Bürgerkrieg stürzte.
Die Statue war ein Geschenk Frankreichs an die USA. Die Idee dazu hatte ein französischer Juraprofessor, ein Abolitionist, Präsident der französischen Gesellschaft gegen die Sklaverei. Für den Schriftsteller James Baldwin hingegen war die Statue „ein hässlicher Witz“. Denn Baldwin kannte die US-amerikanische Realität nur zu gut.
Clint Smith lässt sich auf Liberty Island die Geschichte des New Yorker Wahrzeichens erzählen und erfährt, dass die Freiheitsstatue ursprünglich ein Paar zerbrochener Fußschellen in der linken Hand halten sollte, als Symbol der Abschaffung der Sklaverei. Aber schon 1886, als die Statue in New York eintraf, hielt sie stattdessen eine Tafel im Arm – die Fußfesseln hätten das Fundraising erschwert und die Ablehnung in Teilen der Bevölkerung vergrößert. Noch zu Beginn des Sezessionskrieges überlegte der New Yorker Bürgermeister, ob sich die Stadt nicht von der Union abspalten sollte. In New York gab es – übertroffen nur von der Südstaaten-Metropole Charlston – den zweitgrößten amerikanischen Sklavenmarkt.

Gründervater und Sklavenhalter

Am Beginn seiner Reise, die zwischen Oktober 2017 und Februar 2020 stattfand, besucht Smith die Monticello Plantation, wo einst Thomas Jefferson, Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, lebte. Man kann diesen Ort heute besichtigen und erfährt dort viele Details über das System der Sklaverei, von dem auch Jefferson profitierte. Er ließ seine Plantage von versklavten Menschen betreiben, er handelte mit ihnen, trennte so Familien und zeugte währenddessen mit einer seiner Sklavinnen sechs Kinder.
Clint Smith beschreibt alle neun Orte, die er besucht, atmosphärisch und offen, er schildert genau die Verhältnisse, die dort herrschten und welchen Eindruck der Ort heute macht. Er bleibt sachlich, doch seine persönlichen Betroffenheit ist zugleich spürbar. Er lässt Menschen zu Wort kommen, die mit diesen Orten in Verbindung stehen: Fremdenführer, Touristen, Heimatforscher, Anwohner und Nachgeborene dort ehemals Versklavter.

Vielstimmiges Erzählen

Die vielstimmige Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit ergibt ein einprägsames Bild davon, wie stark die Sklaverei das Dasein schwarzer Menschen in den USA bis heute prägt. Das Sprechen darüber und die Weitergabe von Wissen sind für Smith unabdingbar, um die eigene Identität besser zu verstehen und den kollektiven Willen zu fördern, sich einer schmerzhaften Geschichte zu stellen. Insofern ist dieses Buch ein Reiseführer und zugleich eine Einladung, eigene Routen zu entdecken.
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