Clemens Meyer: "Die stillen Trabanten"

Geschichten aus einer düsteren Welt

Buchcover von Clemens Meyers "Die stillen Trabanten". Im Hintergrund: Die Karl-Liebknecht-Strasse in der Leipziger Südvorstadt.
Buchcover von Clemens Meyers "Die stillen Trabanten". Im Hintergrund: Die Karl-Liebknecht-Strasse in der Leipziger Südvorstadt. © S. Fischer Verlag / dpa / picture alliance
Von Knut Cordsen · 11.04.2017
Seine Helden sind einsame Helden – Helden am Rand der Gesellschaft. In dem neuen Erzählband "Die stillen Trabanten" lässt Clemens Meyer sie zu Wort kommen: Er denkt sich in sie hinein, fängt ihre Sprache ein.
Die letzte und längste dieser Geschichten fällt aus dem Rahmen. Sie spielt nicht in unserer Gegenwart im Osten der Bundesrepublik - seit jeher Clemens Meyers bevorzugtes literarisches Terrain -, sondern während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion, unter exilierten Autoren wie Willi Bredel, Johannes R. Becher und Alfred Kurella (dem Gründungsdirektor des Leipziger Literaturinstituts, an dem Meyer selbst viele Jahre später studierte).

Von leisen Zweifeln

Im Zentrum der Erzählung "In unserer Zeit" steht der heute fast vergessene "Arbeiterschriftsteller" Willi Bredel, der im Angesicht der auf Moskau vorrückenden deutschen Truppen im Keller der Lenin-Bibliothek an jenem Roman über den Seeräuber Klaus Störtebeker arbeitet, der 1950 unter dem Titel "Die Vitalienbrüder" erscheinen sollte.
Meyer beschreibt nicht nur großartig die ersten leisen Zweifel Bredels an der sozialistischen Idee eines "neuen Deutschland" und ihrer stalinistischen Pervertierung, sondern auch die Zweifel gegenüber der literarischen Arbeit:
"Manchmal wusste er nicht mehr, ob er log und log oder ob er Märchen schrieb und aus dunklen Märchen helle machte, oder ob er die neue Zeit mit vorbereitete, so wie er es hoffte."

Von Außenseitern

Solche "dunklen bösen Märchen" und Mythen durchziehen viele der in dem Band "Die stillen Trabanten" nun im guten Dutzend versammelten Erzählungen. Im Abgesang auf die untergegangene Welt des Kohlenviertels ("ein Reich der Schatten") erinnert ein Eckkneipen-Trinker an Phineus, die Gestalt aus der Argonauten-Sage.
In einer anderen Geschichte über einen Ex-Jockey und Stallmeister, der am Spielautomaten einer Zufallsbekanntschaft sein Leben erzählt, zitiert dieser das Grimmsche Märchen mit dem Pferdekopf: "Oh Falada, der du da hangest ...".
Es spricht für die Kunst des Clemens Meyer, dass derlei nie aufgesetzt wirkt, sondern sich nahtlos in den Erzählfluss einfügt. Seine Helden sind auch in diesem Buch Außenseiter: Frauen, die in der Bahnreinigung oder als Friseurin, Männer, die beim Kurierdienst oder im Security-Bereich arbeiten und etwa von Angriffen gefährdete Ausländerwohnheime bewachen. "Zu Ostzeiten" sozialisiert, verwenden sie bisweilen ostdeutsches Vokabular: "Dispatcher", "Kneiper", "Volkssolidarität".

Unvergessliche Geschichten

Meyer vermag seine melancholisch grundierten Figuren so zu zeichnen, dass man ihre Geschichten nicht vergisst: etwa die vom Triebwagenführer, der traumatisiert ist durch den Selbstmord eines Mannes, der sich vor seinen Zug geworfen hat ("Schienensuizid") und dessen Witwe er aufsucht, um zu begreifen, was ihn den Freitod hat suchen lassen.
Oder nehmen wir die Titel gebende Geschichte eines Imbissbudenbesitzers, der sich in eine Muslimin verliebt und deshalb, obwohl allem Religiösen abhold, beginnt, im Koran zu lesen, um ihr näher zu sein. "Die stillen Trabanten", schreibt Meyer, das sind für ihn "die großen Hochhäuser am Rand der Stadt, deren Lichter in den Nächten langsam erloschen, Wohnung für Wohnung, Fenster für Fenster"
Meyer entdeckt uns die Geschichten hinter diesen Fenstern. Sie spielen in unserer Zeit und sind doch zeitenübergreifend, denn wie heißt es hier: "Was ist schon gegenwärtig? Gegenwärtigkeit ist eine Legende und ein vollkommen falscher Begriff, wir befinden uns immer wieder woanders."

Clemens Meyer: "Die stillen Trabanten", Erzählungen
S. Fischer, Frankfurt am Main 2017
270 Seiten, 20,00 Euro

Mehr zum Thema