Clarice Lispector: "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau"

Im Untergrund rumort Existenzielles

06:35 Minuten
Buchcover zu "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" von Clarice Lispector.
Einblicke in die dunkelsten Ecken und Winkel der weiblichen Seele: Clarice Lispectors "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau". © Penguin Verlag
Von Maike Albath  · 22.11.2019
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Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector taucht in ihren Erzählungen in die Abgründe des Alltags ab. Sie findet dabei ebenso fantastische wie faszinierende Bilder für weibliche Innenwelten. Und Sinn für schräge Pointen hat sie auch noch.
Was, um alles in der Welt, ist die Zukunft? Die Zukunft ist eine Schnur aus Metall, nichts weiter. Diese lapidare Feststellung steht am Beginn der Erzählung "Eröffnungsrede", und sofort geraten Faktizität und Abstraktion in ein eigentümliches Spannungsverhältnis. Es folgen eine ganze Reihe naheliegender und zugleich phantastischer Feststellungen: Die Schnur könne nicht aus Fleisch sein, sonst würde sie gefressen. Sie verfüge über Ewigkeitsgarantie. Sie sei hohl und deshalb, wie es heißt, "innen verlassen".
Es sind Momente wie diese, die das Faszinosum der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector ausmachen. Immer wieder geht es in ihrer Kurzprosa, die jetzt in dem Band "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" versammelt ist, um den Widerstreit von Realität und innerer Wirklichkeit.

Alles scheint aus Fleisch zu sein

Lispectors Sprache ist zupackend, die bildhaften Vergleiche – eine betrunkene Frau fühlt sich "reif und rund wie eine Riesenkuh", Obstkerne ähneln "verfaulten Gehirnen" – sind lustvoll. Lispectors bevorzugtes Experimentierfeld ist die weibliche Psyche. Viele der Geschichten nehmen von ganz alltäglichen Begebenheiten ihren Ausgang: dem Besuch der Schwiegermutter, einem freien Tag, einem Ei auf einem Tisch. Aber dann gerät etwas ins Rutschen, offenbart sich eine zweite Ebene.
Laura, die gerade erst eine Krise überwunden hat und für alles Listen anfertigt, will sich zum Abendessen umkleiden und fühlt sich von der Schönheit eines Rosenstraußes bedrängt. Der Anblick eines blinden, kaugummikauenden Mannes wirft die labile Familienmutter Ana aus der Bahn. Zwei Tage lang liegt die Heldin der Titelgeschichte im Bett und kann sich zu nichts aufraffen. Sie hatte auf einem Arbeitsessen ihres Mannes dessen übergriffigem Förderer ertragen müssen. Plötzlich scheint alles um sie herum aus Fleisch zu sein, auch die Bettpfosten, der Stuhl, die Fenster. Sie wolle ihrer Wohnung am nächsten Tag mit Putzmitteln auf den Leib rücken, beschließt sie beim Einschlafen.

Das Korsett bürgerlicher Lebensentwürfe

Obwohl Lispector häufig Einblicke in die dunkelsten Ecken und Winkel der weiblichen Seele vermittelt, gibt es doch immer wieder komische Momente oder schräge Pointen. Clarice Lispector, die bedeutendste brasilianische Schriftstellerin, 1920 in der Ukraine als Tochter einer jüdischen Familie geboren und viele Jahre lang Diplomatengattin, kannte das Korsett bürgerlicher Lebensentwürfe aus eigener Anschauung. Noch während ihres Jurastudiums veröffentlichte sie erste Zeitungsartikel. Mit dreiundzwanzig brachte sie ihr Romandebüt "Nahe dem wilden Herzen" heraus, das auf enorme Resonanz stieß, weil die Autorin aus dem Stand heraus den Anschluss an die Moderne bewältigte. Nach 15 Jahren im Ausland trennte sich Lispector sich von ihrem glamourösen Ehemann und hielt sich und ihre beiden Söhne als Journalistin und Schriftstellerin über Wasser.
In "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau", dem ersten Teil einer zweibändigen Ausgabe sämtlicher Erzählungen der Autorin, rumort im Untergrund etwas Existenzielles. Manchmal kann es auch eine Henne sein, die mit Apathie und Schreckhaftigkeit über eine gesamte Familie herrscht.

Clarice Lispector: "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau"
Sämtliche Erzählungen I. Herausgegeben von Benjamin Moser
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby
Penguin Verlag München 2019
414 Seiten, 24 Euro

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