Cittàslow Überlingen

Der Erfolg der Langsamkeit

06:21 Minuten
Blick in die Luziengasse in Überlingen
Überlingen am Bodensee ist Mitglied im Cittàslow-Netzwerk. © imago images / bodenseebilder.de
Von Thomas Wagner · 15.07.2019
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Die Cittàslow-Idee entstand vor 20 Jahren in Italien: Inzwischen ist die Bewegung längst in Deutschland angekommen. Überlingen am Bodensee ist eine der Städte, die sich der Nachhaltigkeit und Verbesserung der Lebensqualität verpflichtet haben.
"Gut, dann nehme ich von dem Biokopfsalat, ist wunderschön."
"Bitte. Geht's so?"
"Dann nehme ich noch ein Bund Radieschen bitte und eine rote Paprika."
Wochenmarkt in Überlingen: Gut zwei Dutzend Händler bieten Salat, Obst, Gemüse, Fisch und so manches mehr auf der Hofstatt an, einem zentralen Platz, eingerahmt von mittelalterlichen Gebäudefassaden. Wer ans Bodenseeufer will, muss nur einmal ums Eck – und ist in zwei Minuten am Ufer. Lona Buschke aus Düsseldorf-Benrath macht schon zum 30. Mal Urlaub in der 23.000-Einwohner-Stadt. Der Besuch des Wochenmarktes ist für sie Pflicht.
Wichtig erscheint ihr beim Bummel vorbei an den Produkten, "dass sie möglichst aus dem Umland hier kommen, die Salate kommen von der Insel Reichenau, dass das also von den regionalen Bauern ist, dass das nicht von irgendwo her geschippert wird."

Familiäre Atmosphäre auf dem Wochenmarkt

"Dass man Leute trifft, dass man Bekannte trifft, das ist schön in Überlingen einfach, mit Blick auf die Produkte: Dass sie frisch sind – und dass sie regional sind. Obst und Gemüse ... Wenn es hier Erdbeeren gibt und Kirschen, dann sind die von hier. Ich möchte nicht gerne Äpfel haben aus Südafrika. Die müssen nicht geflogen werden, wenn sie hier auch wachsen. Das finde ich einfach für die Umwelt unsinnig."
Angelika Weishaupt ist angestammte Überlingerin – und schätzt den Wochenmarkt als Ort der familiär anmutenden Begegnungen: Jeder scheint jeden zu kennen. Aber sie kommt auch wegen der Produkte aus der umliegenden Region hierher - ein wichtiges Kriterium für die Mitgliedschaft der Stadt in der Vereinigung Cittàslow.
"Wir haben ausschließlich regionale Marktbeschicker. Ich habe immer wieder den Wunsch aus der Bevölkerung, dass auch Anbieter aus Südtirol zugelassen werden sollen. Aber: Wir haben uns als Stadt Überlingen bewusst entschieden, nur regionale Anbieter zuzulassen, weil wir der Meinung sind, dass das auch einem Nachhaltigkeitsgedanken entspricht."
Und um Nachhaltigkeit geht es vor allem bei Cittàslow, weiß Überlingens Oberbürgermeister Jan Zeitler. Von seinem Büro im Rathaus, gebaut bereits im 15. Jahrhundert, kann er mühelos hinüberblicken zum lebhaften Treiben auf dem Wochenmarkt. Über 100 Städte machen mittlerweile bei Cittàslow mit, eine Vereinigung von Städten unter 50.000 Einwohnern, die sich dem Gedanken der Nachhaltigkeit verschrieben haben.

Nachhaltige Kommunalpolitik in der Praxis

Sie tauschen regelmäßig Erfahrungen darüber aus, wie nachhaltige Kommunalpolitik in der Praxis aussehen kann. Dass nur Händler aus der Region zum städtischen Wochenmarkt dürfen, ist dafür nur ein Beispiel von vielen.
Marktstand mit Obst auf dem Wochenmarkt in Überlingen am Bodensee
Nur regionale Händler dürfen auf dem Wochenmarkt in Überlingen verkaufen.© picture alliance / Arco Images / Kiedrowsk
Vor allem beim Tourismus, einem der wichtigsten Wirtschaftszweige in Überlingen, spielen nachhaltige Angebote eine wichtige Rolle. Jürgen Jankowiak, Chef der Tourismus- und Marketing-GmbH:
"Wir haben Slow-Food-Wirte auch hier in der Stadt oder in den Ortsteilen. Wir haben im Klinikbereich Angebote, die in diesen Bereich auch hineinpassen, was eben den Bereich Ernährung angeht, beispielsweise das ganze Thema Fasten. Wir haben hier vieles anzubieten, was mit dem Cittàslow-Gedanken, mit der Idee der Nachhaltigkeit, zusammenpasst."
Dabei passt ein Großprojekt, dass in Überlingen ansteht, auf den ersten Blick gerade nicht zur Cittàslow-Idee: Überlingen wird im kommenden Jahr die baden-württembergische Landesgartenschau ausrichten – eine Massenveranstaltung. Erwartet werden hunderttausende Besucher. Doch auch so etwas könne nachhaltig geplant und konzipiert werden, meint Oberbürgermeister Jan Zeitler:
"Nachhaltig ist zum einen die Renaturierung der Strukturen, des Geländes. Das Gelände war vorher ein Baustoff-Großhandel und war in keinster Weise als nachhaltig anzusehen. Auch die Erschließungswege der Landesgartenschau sollen nachhaltig erfolgen, über den Bodensee, über den ÖPNV, über Busstrukturen. Sie wissen: Jeder ankommende Besucher, der in einem Bus sitzt, hat schon mal ökologisch vieles richtiggemacht. Wir werden den Stadtverkehr, den Shuttle-Verkehr, mit E-Bussen aufbauen. All diese Komponenten spielen zusammen."

Anerkennung für das Langsame

"Cittàslow – das ist eine Stadt, in der Menschen leben, die neugierig auf die wiedergefundene Zeit sind, die reich ist an Plätzen, Geschäften, Orten voller Geist, faszinierender Handwerkskunst, wo der Mensch noch das Langsame anerkennt, die Echtheit der Produkte und die Spontanität der Bräuche genießt."
So heißt es auszugsweise im Gründungsmanifest. Will heißen: Neben der umweltverträglichen Ausrichtung der Kommunalpolitik gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Kriterien, die Mitgliedsstädte im Cittàslow-Verbund auszeichnen.
"Man kann alles zu Fuß machen. Man kann zu Fuß gehen, kann das Auto stehen lassen. Es ist eigentlich alles da."
"Ich denke an die kleineren Geschäfte hier, die eben so regionale Sachen machen."
"Die Stadt hat halt Tradition. Die ehemalige freie Reichsstadt hat sehr viele Kulturgüter erhalten. Und es gibt die Feste, die die alten Überlinger noch feiern, mit Tradition, und dabei der Nachhaltigkeit bewusst sind und sagen: Das möchten wir nicht aussterben lassen. Und sagen: Das hat natürlich schon einen Reiz. Also eine entschleunigte Stadt mit Lebensqualität, wo man die Sache genießt."
So Susanne Fricke, Monika Weishaupt und Jürgen Herr, drei Überlinger unterwegs in der Innenstadt. Die 'entschleunigte Stadt' spiegelt sich auch wieder in jener gelben Schnecke, die der Cittàslow-Verbund als Symbol für die Philosophie der Bewegung führt. Doch ausgerechnet diese gelbe Schnecke ist nicht unbedingt der Liebling von Überlingens Oberbürgermeister Jan Zeitler. Denn, so sagt er: Im Zuge einer nachhaltigen kommunalen Politik sei Schnelligkeit und nicht behäbige Gemütlichkeit gefragt.
"Und insofern ist der Begriff 'slow' völlig falsch an dieser Stelle. Denn alles, was nachhaltige Stadtziele angeht, erfordert hohen Einsatz. Da kann man nicht langsam sein. Da muss man sich einbringen. Insofern stehe ich voll hinter den Zielen, bin aber über die Namenswahl nicht ganz glücklich."

Langsam zu mehr Lebensqualität - Mittlerweile 269 Städte in 30 Ländern haben sich dem Konzept von Cittàslow angeschlossen. Die Wiege der entschleunigten Städte ist Orvieto in der italienischen Provinz Umbrien. Jörg Seisselberg hat sich dort umgesehen. Audio Player

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