Christopher Sims: "The Pretend Villages. Inside the U.S. Military Training Grounds." (Englisch)
Mit einem Essay von Wells Tower.
Kehrer Verlag Heidelberg 2021
120 Seiten, 35 Euro
Kulissen zum Tötenüben
07:11 Minuten
Für seine Illustrationen des US-amerikanischen Afghanistan-Feldzuges hat der Fotograf Christopher Sims die USA nicht verlassen. Seine Bilder dokumentieren, wie die Strategen der US-Armee das Feindesland auf Übungsplätzen nachbauen.
Was Donald Trump begonnen hat, setzt der neue Präsident der USA, Joe Biden, fort: Die amerikanischen Truppen ziehen sich aus dem Nahen und Mittleren Osten zurück. Bis zum 11. September, dem 20. Jahrestag der Terrorattacken auf Amerika, soll die Mission beendet und kein US-Soldat mehr in Afghanistan stationiert sein.
Unabhängig davon, ob die Ziele erreicht wurden, stellt sich die Frage: Wie hat die US-Armee ihre Soldaten auf den Einsatz vorbereitet? Was haben sie erfahren über das Leben in einem Land, das ihnen vollkommen fremd ist? Wie haben sie gelernt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und auf Befehl zu töten? Nach Antworten sucht der amerikanische Fotograf und Historiker Christopher Sims in seinem Fotoband: "The Pretend Villages."
Leere Orte für das Üben von Kampf
Es sind künstliche Orte im Umfeld von US-amerikanischen Militär-Stützpunkten und Truppenübungsplätzen. Sie liegen in den Wäldern von North Carolina und in den Feldern von Louisiana, in der Wüste nahe dem Death Valley in Kalifornien und an anderen Orten in Amerika. Sie sind zwar nicht wirklich geheim, aber es wird auch nicht allzu gern über sie geredet: bizarre Zwischenstationen für Soldaten auf dem Weg an die Front und in den Kampf. Hier sollen sie die Menschen kennenlernen, die es zu befreien und zu beschützen gilt, und auch den Feind in diesem asymmetrischen Krieg.
Potemkinsche Dörfer, ein paar Häuser-Fassaden und Bretterbuden, Marktplätze, Orte, die vorgeben, sie könnten auch im Irak oder in Afghanistan liegen: ein paar eilig hochgezogene Moscheen, Teestuben, Läden, Wohnungen, Gebetsräume, Schulen. Oft gibt es Requisiten, die das Fremde andeuten, die Vasen, Lampen, Betten, die moslemischen Parolen sind nur auf Holzwände gemalt und sehen aus wie eine harmlose Kinderzeichnung. Aber harmlos ist hier nichts, wenn schwer bewaffnete Soldaten in Kampfmontur und mit gepanzerten Fahrzeugen durch die Straßen donnern, sich Befehle zubrüllen, demonstrierende Einheimische umzingeln und auf den Abzug drücken, um vermeintliche Terroristen auszuschalten.
Aus der Gegend
Bewohnt werden diese potemkinschen Dörfer, in denen US-Soldaten den Anti-Terror-Kampf einüben, von Rollenspielern: manchmal einfache Bürger aus der Gegend, die sich ein paar Dollar dazu verdienen, und Waffennarren, die Lust auf Pulverdampf haben und sich erst wohl fühlen, wenn sie ein Gewehr in der Hand haben. Oft aber sind es Menschen aus den jeweiligen Krisen- und Kriegsgebieten, die dort im Gefängnis saßen und gefoltert wurden, die in den USA Zuflucht gefunden haben, die jetzt in den "Pretend Villages" das Leben und Sterben in ihrer Heimat noch einmal "nachspielen" und auf geradezu perfide Weise ihr eigenes Trauma bearbeiten.
Die Übungen sollen möglichst realistisch und detailgenau ablaufen und dauern manchmal Tage und Wochen. Deshalb ist für alles gesorgt, von der Verpflegung bis zum Schlafplatz, von der Waffen-Replik bis zur Wunde aus Plastik, die man sich an den Körper kleben kann, um sich gegenüber den Sanitätern als schwer verletztes Opfer ausweisen zu können.
Billige Kulissen
Sims hat diese "US. Military Training Grounds" über Jahre hinweg besucht und dort als teilnehmender Beobachter dem seltsamen Treiben zugeschaut. Er zeigt aber nur ganz selten die US-Soldaten in Aktion, sondern interessiert sich für das, was hinter den billigen Kulissen und potemkinschen Fassaden geschieht, wie die Menschen die Zeit zwischen ihren gespielten Einsätzen als Taliban-Kämpfer oder Marktfrau, Imam oder Clanführer verbringen. Als Ouvertüre sehen wir auf einem Foto, wie Darsteller mit ihren Rollkoffern und Rucksäcken ins Dorf einziehen, in dem sie dann ein paar Tage oder Wochen das Leben, Kämpfen und Sterben vorgaukeln – und es endet mit einem Foto, auf dem dieselben Menschen wieder über die staubige Straße aus dem Dorf abziehen. Im Buch dann Fotos von vermeintlichen Kämpfern, die lächelnd mit ihren Waffen für die Kamera posieren. Stickige Räume mit aufgemalten Fahnen, müde Terroristen, die traurig in die Kamera blicken, ein aus grobem Holz gezimmerter Thron eines Stammesführers, eingefallene Bretterbuden, Straßensperren mit ausgebrannten Fahrzeugen, kaputte Wachtürme.
Die vermeintlichen Terroristen tragen schicke Turnschuhe. Einem vermeintlich Schwerverletzten quellen die Plastik-Gedärme aus dem Bauch, auf einem Kärtchen sind seine Verletzungen vermerkt. Grinsende Mädchen mit Kopftuch und Bombengürtel, die schnell zwischendurch ein Selfie machen. Verpflegungsstände mit frischem Obst und Gemüse, achtlos herumliegende Leichenteile aus Plastik, fröhliche Menschen, die ein Picknick machen und auf die nächsten Kampfhandlungen warten. Spielzeuggeld flattert herum, Pappkartons mit angeblichen Hilfslieferungen und angeblichem medizinischem Gerät, denn – wie gesagt – alles ist ja nur gespielt, getürkt, gefakt.
Nur die Fotos, die auf dem Eingang zu einem vermeintlich irakischen oder afghanischen Dorf kleben, zeigen die bittere Wirklichkeit: auf den Bildern, die um die Welt gingen, sieht man, wie Gefangene mit Stromstößen gefoltert werden und wie US-Soldaten nackte Gefangene wie Hunde abrichten und an der Leine hinter sich her schleifen. Spätestens da war jedem klar, dass Amerika im Anti-Terror-Kampf seine Seele verloren hat und den Krieg vielleicht militärisch gewinnen kann, aber ihn niemals als moralischer Sieger wird beenden können.
Schlecht inszenierter Krieg
Die Fotos erzählen davon, wie profan und lächerlich es ist, Soldaten auf diese Weise auf ein fremdes Land und einen völlig unverständlichen Krieg vorzubereiten. Die künstlichen Dörfer mit ihren billigen Bauten, die Einheimischen und die Terroristen in ihren bunten Kostümen und modischen Jeansklamotten wirken, als kämen sie aus einem schlechten B-Movie.
Wenn gut ausgerüstete Soldaten auf schlecht bezahlte Laien-Darsteller treffen, wenn Kampf-Einsätze damit enden, dass Plastik-Leichenteile herumliegen und Verwundete ein Kärtchen mit ihren Verletzungen vorzeigen, wird bestimmt nicht eintreten, was ein US-General eigentlich beabsichtigt: Er möchte, dass seine Soldaten die schlimmsten Kriegserfahrungen und den größten Horror bereits in der Heimat erlebt haben, bevor sie in die Fremde ziehen. Das Gegenteil ist der Fall: Wer mit billigen filmischen Mitteln einen schlecht inszenierten Krieg einübt, wird an der Realität scheitern.
Christopher Sims, der mit traditioneller Kriegsfotografie und blutiger Gewalt-Illustration nichts am Hut hat, zeigt, wie unwirklich und überflüssig das ganze groteske Szenario ist: Es ist, weil es niemanden bekehren und belehren will, ein wirklich großartiges und zutiefst beindruckendes Anti-Kriegs-Buch.