Christoph Türcke: „Natur und Gender“

Eine Gender-Kritik für die kurze Aufmerksamkeitsspanne

06:32 Minuten
Das Cover von Christoph Türckes Buch "Natur und Gender" auf orange-weißem Hintergrund.
Menschen brächten nicht mehr die Geduld auf, sich mit der Komplexität der Welt und des eigenen Daseins auseinanderzusetzen, schreibt Christoph Türcke. © C.H. Beck / Deutschlandradio
Von Jens Balzer · 06.02.2021
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In den Streit um Gender und Natur mischt sich nun der Philosoph Christoph Türcke mit seiner "Kritik eines Machbarkeitswahns" ein. Das Buch ist nur in Teilen gelungen, denn es ignoriert die Stimmen der Betroffenen und aktuelle philosophische Literatur.
Die Debatte über Transgender-Sexualität ist in letzter Zeit mit zunehmender Erhitzung geführt worden. Die kontrovers diskutierte Ansicht der Bestseller-Autorin Joanne K. Rowling, dass Transgender-Frauen keine "richtigen" Frauen sind, und der breite Protest, der ihr deswegen entgegenschlug, war sicherlich die schrillste Ausprägung davon. Jetzt hat sich auch der Philosoph Christoph Türcke ins Getümmel geworfen.
Türcke verortet sich in der Tradition der Kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Er betrachtet sich selber als Linker, ist sich aber auch für polarisierende Thesen nie zu schade gewesen: Legendär ist sein Auftritt beim Kongress der Zeitschrift "konkret" 1993, bei dem er der versammelten linken Intelligenz zu erklären versuchte, dass es zwar gegen Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen gelte – dies aber nichts an der Gültigkeit biologischer Rassebegriffe ändere.

Plädoyer für vermeintliche biologische Fakten

Auch in seinem neuen Buch bricht er eine Lanze für vermeintliche biologische Fakten. In "Natur und Gender – Kritik eines Machbarkeitswahns" befasst Türcke sich mit der Tatsache, dass in den letzten Jahren eine stark wachsende Zahl von Menschen das Gefühl bekundet, "falsch im eigenen Körper zu sein" und darum mit hormonellen und operativen Methoden die körperliche Identität der gefühlten geschlechtlichen Identität angleicht.
Für Türcke ist dies zunächst – in psychoanalytischer Terminologie – die Konsequenz einer generellen "Ich-Dissoziation", also einer Störung des individuellen Vermögens, mit sich identisch zu sein.
Den Grund dafür sieht er in der rasenden Reizüberflutung der digitalen Moderne. Im Zeitalter der Smartphones und rudimentären Kommunikation sänken die Aufmerksamkeitsspannen, darum brächten die Menschen schlicht nicht mehr die Geduld auf, sich mit der Komplexität der Welt auseinanderzusetzen und auch nicht mit der Komplexität des eigenen Daseins. Wenn sie sich unwohl mit sich selbst fühlten, würden sie nicht mehr nach einer psychologischen oder therapeutischen Lösung suchen – lieber flöhen sie, so Türcke, in eine andere, dem eigenen Dasein entgegengesetzte Existenz: in einen anderen Körper.

"Machbarkeitswahn" und Emanzipation

Diese Generation der ADHS-Internet-Junkies mit Hang zum Geschlechtswechsel werde nun – damit kommen wir zu Türckes geistesgeschichtlichem Argument – begeistert begrüßt von den Vertreter*innen der alten philosophischen Tradition des Konstruktivismus: Im ersten Teil seines Buchs verfolgt er diese Tradition von der biblischen Genesis über Hegel bis zu Michel Foucault und Judith Butler.
Der Konstruktivismus betrachte es als das höchste Ziel der Emanzipation, sich aller Verwurzelung in der Natur zu entledigen und den Menschen dazu zu befähigen, sich allein aus sich selbst heraus zu erschaffen: "creatio ex nihilo". Darum sei der Trans-Mensch, der – so Türckes Interpretation – seine sexuelle Identität ganz nach Gusto und unbelastet von allen natürlichen Prägungen frei wählen zu können glaube, für diese philosophische Schule die höchste Stufe der Selbstbestimmung.
Türcke hingegen sieht darin nur die höchste Stufe eines fehlgeleiteten Glaubens daran, dass der Mensch, der doch in Wahrheit immer ein Naturwesen bleibe, sich gottgleich über die Materie zu erheben vermöge. Mit diesem "Machbarkeitswahn" werde auch der an sich richtige Trend zur Emanzipation sexueller Minderheiten ad absurdum geführt: "Aus dem vernünftigen Gedanken sexueller Selbstbestimmung wird das Gaukelbild einer künstlerischen Identitäts-Selbsterschaffung aus nichts."

Gender-Theorie, gründlich missverstanden

Die Aufmachung und der Titel des Buches legen die Vermutung nahe, dass es sich bloß um ein weiteres Traktat gegen den angeblich grassierenden "Gender-Wahn" handelt. Ganz so einfach ist die Sache nicht: Türckes Buch enthält durchaus interessante Gedanken und lohnt die Lektüre.
Seine Geschichte der Versuche des abendländischen Denkens, sich des unverfügbaren Rests der Natur zu entledigen, sind kursorisch, aber bedenkenswert, jedenfalls was die Zeitspanne von der Bibel bis in die 1970er-Jahre angeht. Seine Auseinandersetzung mit Foucault und Butler ist hingegen erstaunlich flach: Bei Butler ist ihm schlicht der dialektische Charakter ihrer Theorie entgangen: Ihr geht es ja gerade nicht darum, das Geschlecht für "frei wählbar" zu erklären, sondern darum, dass sexuelle Identität aus Prozessen der Wiederholung und Aneignung entsteht, bei denen der unverfügbare Rest immer wieder neu definiert, aber keineswegs beseitigt wird.
Richtig ist Türckes Beobachtung, dass die Entwicklung des Gender-Dekonstruktivismus parallel verläuft zur Entstehung des neoliberalen Kapitalismus und dessen Idealbild eines flexiblen, nicht festgelegten Individuums. Das heißt aber nicht, wie er glaubt, dass fluide Identitäten nicht emanzipatorisch sein können. Von Marx und übrigens auch von Foucault kann man lernen, dass jeder neue Entwicklungsstand der Produktionsmittel ebenso neue Möglichkeiten der Repression wie der Befreiung beinhaltet – auch hier lohnt ein dialektischer Blick.

Türcke setzt nur simple Diskursmarken

Stattdessen bleibt Türckes Gegenwartsanalyse auf eine kulturpessimistische Widerspiegelungstheorie beschränkt, die – und das ist der gewichtigste Einwand – sich auch gar nicht erst damit aufhält, mit den analysierten Subjekten zu reden. Man könnte ja auch Betroffene befragen, warum sie ihren Körper der empfundenen geschlechtlichen Identität angepasst haben und wie es ihnen damit geht; oder – wenn einem das als Philosoph zu empirisch ist – zumindest die aktuelle Literatur zu diesem Thema zur Kenntnis nehmen, zum Beispiel die Bücher von Paul B. Preciado, der seinen eigenen Transformationsprozess zum Ausgangspunkt für eine philosophische Theorie der Trans-Identität nimmt.
Gegen den Reichtum derartigen Denkens bleibt Türckes Buch auf knöchrige Weise verschlossen. Letztlich liegt ihm wohl doch mehr daran, simple Diskursmarken zu setzen, die sich auch bei geringer Aufmerksamkeitsspanne erschließen.
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