Christoph Hein: "Verwirrnis"

Über die Liebe im Geheimen

Buchcover zu Christoph Hein: "Verwirrnis"
Der neue Roman von Christoph Hein zeichnet ein Panorama deutschen Geisteslebens. © picture alliance / Suhrkamp
Von Jörg Magenau · 14.08.2018
In seinem Roman "Verwirrnis" schreibt Christoph Hein von einer Liebe, die nur im Geheimen ausgelebt werden kann. Hein erzählt diese Geschichte der großen Gefühle in aller Nüchternheit - unaufdringlich, aber immer präsent: Das ist seine Stärke.
Seinen Nom de Guerre als "großer deutscher Chronist" trägt Christoph Hein vollkommen zu recht. Vielleicht müsste man ihn präziser noch als Autor bezeichnen, der seit seinen ersten Romanen in den 80er-Jahren die Geschichte des Landes stets aus spezifischer ostdeutscher Erfahrung heraus in den Blick genommen hat. Wer wissen will, wie der Alltag in der DDR gewesen ist und was nach der Wende mit den Menschen in den sogenannten neuen Ländern geschah, wie man sich in den jeweiligen Verhältnissen müde gelebt hat und welche Fallstricke es gab, der ist mit Heins Romanen gut bedient. Das gilt auch und in besonderem Maße für seinen neuen Roman "Verwirrnis", der fast das gesamt 20. Jahrhundert umfasst, es aber auf das Schicksal weniger Menschen konzentriert.
Im Mittelpunkt steht Friedewart Ringeling, der zunächst als skurriler älterer Herr eingeführt wird. Er legt sehr viel Wert auf Etikette und korrekte Kleidung und scheint noch aus einer anderen Epoche zu stammen. Tatsächlich war sein Vater ein strenggläubiger, der Monarchie nachtrauernder Christ, der seine Kinder nicht nur streng, sondern brutal erzog. Sein Erziehungswerkzeug war der "Siebenstriemer", eine siebenschwänzige Peitsche, die er in einem Ritual zum Einsatz brachte, an dessen Ende der Sohn den Vater zu bedauern hatte, dass er diese Prozedur ausüben musste.

Leidenschaft im Geheimen

Friedewart wächst in Heiligenstadt im Eichsfeld auf, auch für DDR-Verhältnisse allertiefste Provinz. Luft zum Atmen und eigene Freiheitsräume erobert er sich erst in der Freundschaft mit dem begehrenswerten Wolfgang, mit dem er sich über Literatur austauscht. Gemeinsam unternehmen sie eine Radtour an die Ostsee und lernen sich lieben. Für Friedewart ist es tatsächlich eine Lebensliebe und zugleich die Entdeckung der eigenen Homosexualität. Schwul zu sein war allerdings damals in Ost und West ein Straftatbestand. Als der Vater die beiden im Bett erwischt, zückt er zum letzten Mal die Peitsche. Doch die gesamte Gesellschaft funktioniert so, dass die beiden Freunde ihre Liebe und ihre Leidenschaft nur im Geheimen ausleben können.
Der Schriftsteller Christoph Hein auf der Leipziger Buchmesse 2016
Der Schriftsteller Christoph Hein auf der Leipziger Buchmesse 2016© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Während des Studiums in Leipzig in den 50er-Jahren – Friedwart studiert bei Hans Mayer Germanistik, Wolfgang wird Kirchenmusiker – schließen sie sich mit der Studentin Jaqueline zusammen, die eine heimliche Beziehung mit einer Dozentin lebt, was dazu führt, dass Friedewart schließlich eine Scheinehe mit ihr eingeht, um den Vater ebenso wie die sozialistische Spießergesellschaft zu beruhigen und einigermaßen unbehelligt zu leben. Doch die Beziehung zu Wolfgang geht in die Brüche, als der beschließt, sein Studium in West-Berlin fortzusetzen. Friedewart bleibt für den Rest seines Lebens allein als verheirateter Mann.

Hein als Chronist

Hein erzählt diese Geschichte der großen Gefühle in aller Nüchternheit. Seine Sätze sind einfach und klar. Als Erzähler tritt er ganz hinter den Stoff zurück. Gerade weil sich stilistisch kein Wort und kein Satz in den Vordergrund drängen, schafft er es, zutiefst für die dargestellten Schicksale einzunehmen. Es ist ein erstaunliches Phänomen, wie Mitgefühl und Anteilnahme entstehen, indem sie sprachlich in keiner Weise produziert werden müssen. Hein bleibt Chronist. Das ist seine Stärke. Unaufdringlich aber immer präsent sind die Ereignisse der Zeitgeschichte in die persönlichen Lebensläufe eingeflochten, der 17. Juni, der Mauerbau, die verschiedenen Phasen von Liberalisierung und Überwachungsdruck in der DDR, Mauerfall, Wende und Abwicklung der universitären Institute nach der deutschen Einheit.
Alles hat Folgen für den Helden, aber es ist doch sein Leben, und es ist seine Menschlichkeit, die er gegenüber allen schwankenden Verhältnissen zu bewahren weiß. So würde es auch zu kurz greifen, "Verwirrnis" als einen deutsch-deutschen Schwulenroman zu bezeichnen. Nein, es ist eine Liebes- und eine Lebensgeschichte, die vom großen Kampf um Autonomie und Selbstbestimmung handelt. Friedewart Ringeling gehört zu den unvergesslichen Figuren der deutschen Literatur.

Christoph Hein: "Verwirrnis"
Suhrkamp, Berlin 2018
303 Seiten, 22 Euro

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