Christine Ott: "Identität geht durch den Magen"

Was unsere Esskultur über uns aussagt

Ein Baby sitzt in einem Hochstuhl, hat einen Teller mit Gemüsestücken vor sich und sticht mit seiner Gabel in ein Stück Brokkoli.
Was auf den Teller kommt, hat auch Auswirkungen auf unsere Identität. © imago/BE&W
Christine Ott im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.07.2017
Welcher Nation, welcher Religion oder welchem Kulturkreis wir angehören - all das spiegelt sich auch auf unserem Teller wieder. Christine Ott hat untersucht, was Esskultur über unsere Identität aussagt.
Joachim Scholl: Liebe geht durch den Magen, du bist, was du isst – es gibt eine Menge sprachspielerischer Wendungen rund ums Essen. Die Literaturwissenschaftlerin Christine Ott hat sie alle ernst genommen und variiert in ihrem jüngsten Buch "Identität geht durch den Magen: Mythen der Esskultur". Christine Ott ist im Studio. Ich grüße Sie, guten Tag, Frau Ott!
Christine Ott: Ja, guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Ich habe Ihr Buch in der letzten Woche gelesen, Frau Ott, auch unterwegs in der S- und U-Bahn, und dann war ich im Supermarkt einkaufen für das Abendessen und habe so bei meinem Einkaufskorb gedacht, hm, was würde denn die Christine Ott jetzt wohl sagen zu dieser Packung Risotto, zu zwei Glasflaschen Milch, einem Päckchen fair gehandelten Kaffee, mittelteurer Weißwein dazu und eine Packung Tiefkühlpommes. Was bin ich für ein Typ, Frau Ott, was können Sie von diesem Essen ablesen?
Ott: Also Sie gehören zu den Deutschen, die sich als Italiener in der Küche bezeichnen. Sie kochen nicht nur Pasta, sondern Sie sind schon avancierter, Sie kochen Risotto. Dann der fair gehandelte Kaffee zeigt natürlich, dass Sie nachdenken, dass Sie auch fair einkaufen wollen, politisch korrekt. Milch bedeutet, dass Sie da jetzt noch nicht so skeptisch sind, keine Milch mehr zu kaufen, denn Milch, die ja lange Zeit als der Inbegriff der Reinheit, auch des reinen, unschuldigen Essens galt, ist ja in letzter Zeit wieder in Verruf geraten. Ich sage wieder, weil das auch keine absolute Neuheit ist. Ja, so viel mal als allererstes Statement.
Scholl: Ich bin ja immer stolz, dass ich eine Glasflasche kaufe und kein Tetra Pak oder wie das heißt.
Ott: Genau.
Scholl: Aber die Tiefkühlpommes, die werfen mich zurück. Frau Ott, Ihr Buch ist ein Querschnitt durch einen gewaltigen Stoff, also durch die Zeiten, die Kulturen, die Literaturen auch über das Essen. Was hat Sie eigentlich dazu gebracht, gereizt, an dieser internationalen Riesenküche, was wollten Sie wissen?

"Essen ein Zeichensystem"

Ott: Ja, also ich wollte etwas beweisen, nämlich, dass das Essen ein Zeichensystem ist, das sich ganz besonders dafür eignet, essentialistische Konzepte von Identität zu transportieren, und ich erkläre das jetzt gleich. Zeichensystem bedeutet, dass Speisen oder Mahlzeitensituationen etwas über nationale, kulturelle, religiöse, Gender-Zugehörigkeit aussagen oder dass sie Machtverhältnisse, Konflikte, aber auch Allianzen ausdrücken können, und für essentialistische Konzepte, was jetzt nichts mit Essen erst mal zu tun hat, gebe ich ein Beispiel: Das wäre zum Beispiel, wenn ich behaupte, so die italienische Esskultur ist immer schon die beste aller Esskulturen gewesen und wird es auch immer sein. Parmesan ist so hervorragend, weil er aus reiner italienischer Milch gemacht wird, und zwar von Italienern und von Italienern, deren Familien das schon seit Jahrhunderten machen, und nur Italiener können einen italienischen Parmesan von einer nicht-italienischen Fälschung unterscheiden.
Scholl: Gut, das ist jetzt essentialistisch, das wirklich, aber das ist ja dann auch ein Geschmacksurteil. In dieser Woche, wie es der Zufall will, Frau Ott, widmet der "Spiegel", das Magazin, dem Essen eine Titelgeschichte.
Ott: Ja, ich weiß.
Scholl: "Der Ernährungskult". Was ist denn eigentlich aber bei uns passiert, Frau Ott, dass Essen zu solch einer gewaltigen, gewichtigen Frage der Identität geworden ist? Früher hat man gesagt, Gott, jeder Mensch muss essen, und was soll sein.
Ott: Ja, also das liegt daran, dass nicht nur unser Essverhalten zu dem gehört, was Bourdieu unseren Habitus genannt hat, also etwas, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, sondern auch unsere bewussten Annahmen über gute und schlechte Ernährung gehören mittlerweile zu diesem Habitus, und das bedeutet, dass unsere bewussten und unbewussten Auffassungen über Nahrung auch aussagen, wer wir sein wollen, also wie wir unser Verhältnis zur Welt, aber auch zu unserem Partner, zu unserer Familie, natürlich Welt, Umwelt im allerweitesten Sinne zu Natur und den Tieren auffassen. Also es ist ein ganz wichtiges Mittel der Selbstdarstellung geworden. Es ist ein ethisches Bekenntnis.
Scholl: Sie erzählen viel so von der Ursituation des Essens: das Kind an der Mutterbrust. Ist das eigentlich die reine Kultur, also kulturell noch völlig uncodiert, unmanipuliert, der Säugling trinkt die Milch der Mutter. Wäre das so im Bild das Paradies, aus dem wir dann vertrieben werden?
Ott: Ja und nein. Also einerseits ist das natürlich die perfekte Veranschaulichung dessen, was die Psychoanalyse als die Mutter-Kind-Dyade bezeichnet hat. Also da gibt es noch nicht diese Vereinzelung. Mutter und Kind sind eine organische Einheit, aber schon in diesem Paradies tut sich eine Spaltung auf, die Melanie Klein sehr gut beschrieben hat, denn das Kind projiziert auf die Mutter ambivalente Fantasien. Also die Brust wird mal als gute, nährende Mutterbrust wahrgenommen, mal als böse Mutter, die die Nahrung verweigert, und daraus entsteht dann dieser erstaunliche Mythos der bösen Mutter als schlechte Ernährerin, den ich auch untersucht habe anhand von Gegenwartsliteratur, der sich bei Amélie Nothomb, bei Laura Esquivel, aber auch in der Psychoanalyse findet. Der andere Punkt, den Sie angesprochen haben, diese Idee der Reinheit oder der Selbstverständlichkeit des Stillens, das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert war erst mal Kuhmilch etwas potenziell Gefährliches, einfach, weil man erst noch entdecken musste, wie man Milch dann eben von Bakterien durch Pasteurisierung befreit, aber seltsamerweise haben die Ärzte den Müttern nicht empfohlen, ihr Kind selbst zu stillen, einfach weil selbst Stillen nicht unbedingt schick und kultiviert war. Das ist ganz interessant, weil wir mit unseren euphorischen, absolut positiv aufgeladenen Naturbegriff uns gar nicht klar machen, dass Natur eben nicht immer unbedingt ein erstrebenswertes Ziel war oder dieses eher, was man … Also Natur ist natürlich auch immer eine Konstruktion, ganz klar. Also diese Reinheit auch, die viele heute immer noch mit Milch assoziieren, das ist eben auch erst eine neuere Errungenschaft.

Ein Steak für den Mann, ein Salat für die Frau?

Scholl: Auch bei den Geschlechtern haben sich Essensklischees, vielleicht sogar Mythen manifestiert. Im Restaurant bestellt der Mann ein Steak, die Frau einen Salat. Gibt es also auch beim Essen so den Gendergap? Scheiden sich da die Geschlechter?
Ott: Ja, das ist wirklich auch eine ganz erstaunliche Erkenntnis für mich gewesen, also dass dieses … Einerseits gibt es natürlich in vielen Kulturen, die Kulturen der sogenannten primitiven Völker, ganz bestimmte Hierarchien, also Speisen, aber auch Zubereitungstechniken, die den Männern beziehungsweise den Frauen vorbehalten sind. Dann zeigt aber tatsächlich eine Umfrage, die Helene Karmasin in den 90er-Jahren in Österreich durchgeführt hat, dass diese Assoziation Frau–Salat, Mann–Steaks immer noch heute in unseren Köpfen aktuell ist, und was aber wirklich erschütternd ist an diesem Gendergap, wie Sie ihn nennen, sind zum Beispiel die Befunde von Sidney Mintz über die Essgewohnheiten des englischen Proletariats, die zeigen, dass da zwar allgemein natürlich billige Speisen, süße Speisen, Marmelade und Tee, vorherrschen, dass aber, wenn es Fleisch gibt, es eben den Männern vorbehalten wird, und dann wird so argumentiert, also Mintz kritisiert dann auch Wissenschaftler, die ganz naiv sagen, ja, gut, Frauen mögen halt lieber Süßes, und in Wirklichkeit steht dahinter eben eine ganz klare Hierarchie, die dem Mann das nahrhaftere Essen vorbehält.
Scholl: Sie haben, Christine Ott, gefühlt alle Aspekte des Essens und seiner kulturellen Codierung der letzten 500 Jahre durchgearbeitet oder noch länger, bis zurück zu den religiösen Mythen, zu den wir jetzt leider nicht mehr kommen. Hat sich das eigentlich, diese intensive Beschäftigung für das Buch eigentlich auf Ihr eigenes persönliches Essverhalten ausgewirkt? Haben Sie sich auch als Typus, kulturellen Typus wiedererkannt?
Ott: Ja, also erst mal habe ich natürlich auch immer mehr die Freude am Kochen entdeckt, die für mich jetzt nicht unbedingt selbstverständlich war. Dann aber auch wurde es für mich immer schwieriger, Fleisch und dann auch tierische Produkte zu essen, was aber auch nicht so … Also ich habe mittlerweile auch schon festgestellt, dass es nicht so einfach ist, also dass man dann auch schon mit mehr Nahrungsergänzungsmitteln arbeiten muss, wenn man dann versucht, auf tierische Produkte zu verzichten. Also es ist wirklich mir dann auch selbst klar geworden, wie komplex doch Ernährungsentscheidungen heutzutage sind. Je mehr man weiß, desto schwieriger wird es, diese Wahl zu treffen. Andererseits bedeutet das natürlich für mich schon, dass man eben immer versuchen sollte, sich so gut wie möglich zu informieren, sich aber auch nicht verrückt zu machen natürlich.
Scholl: Und, ist die italienische Küche die beste? Ich sage persönlich ja.
Ott: Ja, ich bin natürlich absolut einverstanden!
Scholl: Vielen Dank, Christine Ott, für Ihren Besuch!
Ott: Ja, gerne!
Scholl: Und Ihr Buch "Identität geht durch den Magen: Mythen der Esskultur" ist im S. Fischer Verlag erschienen. Fast 500 Seiten stark, es kostet 26 Euro.
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