Christian Metz: "Kitzel"

Eine intime Kommunikation

06:22 Minuten
Cover von Christian Metzs "Kitzel – Genealogie einer menschlichen Empfindung", vor einem Aquarell-Hintergrund.
Buchcover zu Christian Metzs "Kitzel – Genealogie einer menschlichen Empfindung" © S. Fischer / Deutschlandradio
Von Michael Opitz  · 13.08.2020
Audio herunterladen
Wir alle kennen den Kitzel und das Kitzeln - und auch Wissenschaftler und Philosophen sind davon seit jeher fasziniert. Der Literaturwissenschaftler Christian Metz legt nun eine große Kulturgeschichte des Nachdenkens über den Kitzel vor.
Man kommt aus dem Staunen nicht heraus! Wer hätte gedacht, dass von der Antike bis in die Gegenwart so intensiv über den Kitzel nachgedacht worden ist. Nietzsche beispielsweise ließ sich zu der Äußerung hinreißen: "Was ist das beste Leben? Zu Tode gekitzelt werden." Nach der Lektüre von Christian Metz’ umfangreichem Buch über die verschiedenen Formen des Kitzelns bestens informiert, fragt man sich: Wie wäre denn der Philosoph, dem das deutsche Essen so schwer im Magen lag, gern gekitzelt worden?
Es gibt nämlich, so ist von Metz’ zu erfahren, verschiedene Arten, jemanden so zu berühren, dass sie/er – wie etwa beim Lachkitzel – seiner selbst verlustig geht und in ein konvulsivisches Zucken verfällt, dass selbst die Sprache ins Stocken gerät. Nietzsche, der in der Seiltänzerszene seines "Zarathustra" vom Kitzel spricht, hätte wohl eher den sanften Kitzel bevorzugt. Oder dachte er eventuell doch an den sexuellen Kitzel?

Kitzel in Kunst und Wissenschaft

Christian Metz legt keinen Essay vor, sondern sein Kitzel-Sachbuch geht in die Tiefe, wobei es angesichts des Umfangs seines Buches verwundert, dass es bislang noch keine Kulturgeschichte des Kitzels gab. Die hat Metz nun geschrieben und kenntnisreich wird das Neuland narrativ vermessen. Der Kitzel ist ein Rätsel, auch wenn die Neurowissenschaft in den letzten Jahren die Kitzel-Forschung vorangetrieben hat. Metz nähert sich dem Phänomen, indem er, beginnend mit der Antike (Hippokrates, Aristoteles, Platon), zunächst Quellenkunde betreibt und herausarbeitet, wo sich in den philosophischen Schriften, aber auch in der bildenden Kunst (Masaccio "Maria kitzelt das Jesuskind" von 1380) und in der Literatur (Grimmelshausen "Simplicissimus", Elfriede Jelinek "Lust") Belege dafür finden, dass intensiv über den Kitzel nachgedacht wurde.

Von Aristoteles bis Bataille

Dabei überzeugt, wie akribisch sich Metz auf seinen Gegenstand einlässt, wie genau er in seinen Analysen ist und wie er die Textpassagen oder Bilddetails in die jeweiligen historischen Kontexte einzuordnen weiß. Während für Aristoteles der Zusammenhang von Kitzligsein und Lachreaktion den Menschen erst zum Menschen macht, interessiert Descartes im 17. Jahrhundert, wie durch den Kitzel sowohl Freude als auch Schmerz hervorgerufen werden kann. Charles Darwin hält dann im 19. Jahrhundert fest, dass zum Kitzel das Überraschungsmoment gehört, wobei der Kitzelnde Maß halten muss, wenn der Lachkitzel entstehen soll. Wird diese Grenze überschritten, erzeugt der Kitzel Angst. Bataille definiert den Kitzel schließlich im 20. Jahrhundert als "intime Kommunikation", dabei interessiert den französischen Philosophen insbesondere das Moment der Überschreitung. Laut Bataille verlässt der Gekitzelte seinen ruhigen Status, wenn er in einen verkrampften Status übergeht, "er lässt sich von sich selbst herabfallen und öffnet sich für den anderen (der ihn kitzelt)."
Christian Metz erweist sich als kluger Arrangeur eines umfangreichen Materials, in dem er sich mit viel Sachverstand zu bewegen weiß. Man liest das Buch mit viel Erkenntnisgewinn. Fasziniert von seinem Thema geht er allerdings in den Interpretationen häufig zu weit, wenn er versucht, beim Leser Einsichten herauskitzeln zu wollen. Mit weniger Emphase vorgetragen, besäßen sie oft mehr Überzeugungskraft. Im Kapitel über die Bildenden Kunst ist etwa von den Malern die Rede, die die Leinwand kitzeln, und die zuvor von Gott gekitzelt wurden. In solchen Passagen hat der engagierte Autor einfach zu viel gewollt.

Christian Metz: "Kitzel. Genealogie einer menschlichen Empfindung"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
636 Seiten, 32 Euro

Mehr zum Thema