Chinchilla Arschloch, Waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn.
Schauspiel Frankfurt
Konzept, Text & Regie: Helgard Haug
Musik: Barbara Morgenstern
Mit: Christian Hempel, Benjamin Jürgens, Bijan Kaffenberger und Stefan Schliephake
Rimini Protokoll bringt Menschen mit Tourette-Syndrom auf die Bühne
08:10 Minuten
Der eine flötet, schnalzt, klickt, der andere fuchtelt, tritt, zuckt: Helgard Haug vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll holt am Schauspiel Frankfurt drei Menschen mit Tourette-Syndrom auf die Bühne. Die Darsteller erzählen aus ihrem Leben.
Der weiße VW-Bus bremst mit quietschenden Reifen mitten im Bockenheimer Depot, bringt Christian Hempel auf die Bühne. Wenig später liefert der Pizzabäcker Paolo eine frische Salamipizza an eine Zuschauerin im Publikum, die Musikerin Barbara Morgenstern spielt Klavier und singt. Alles echt, kein Fake. Und doch Theater.
Es ist sehr viel Wirklichkeit in "Chinchilla Arschloch, waswas", dem neuen Theaterstück des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, sehr viel Wirklichkeit mit geplantem Kontrollverlust. Der Altenpfleger Benjamin Jürgens, der Mediengestalter Christian Hempel und der Politiker Bijan Kaffenberger erzählen aus ihrem Leben, vom Theaterbesuch, vom Einkaufen auf dem Markt, von der ersten Rede im Landtag.
Die Krankheit irritiert, will Aufmerksamkeit um jeden Preis
Die drei haben Tourette, zwanghafte Tics, jeder anders, jeder andere. Der eine flötet, schnalzt, klickt, sagt ständig "miau". Der andere fuchtelt, tritt, zuckt, haut obszöne Wortketten raus wie "Arschloch. Heil Hitler. Geile Maus."
Tourette hat viel von Theater. Die Krankheit irritiert, will Aufmerksamkeit um jeden Preis, sie performt sich selbst mit allen Mitteln des Tabubruchs in den Vordergrund. Tourette choreographiert das Leben, mal komisch, mal tragisch, und macht den, der es nicht hat, unweigerlich zum Zuschauer, zum Voyeur. Das lernt man an diesem Abend schon in der ersten Minute.
"Chinchilla Arschloch, waswas" ist darum kein Tourette-Stück. Es ist ein Stück über Tabubrüche, über Freiheit, über Einsamkeit, Selbstbewusstsein, die beruhigende Kraft von Musik. Es ist ein Stück über Voyeurismus, vorgegaukelte Toleranz und Empathie. Es ist phänomenal gut gemachtes, durchdachtes Theater, weil es berührt, irritiert, aufschrecken lässt, weil es mit Bekanntem so überrascht, dass man sich am Ende im besten Fall neu positioniert.