Chinas große Hungerskatastrophe
Die Kampagne, mit der die Kommunistische Partei Chinas die Industrialisierung vorantreiben wollte, scheiterte und führte zur größten bekannten Hungerkatastrophe der Geschichte. Zwischen 1958 und 1962 kamen bis zu 40 Millionen Chinesen ums Leben. Yang Jisheng beschreibt die Katastrophe und sucht nach ihren Ursachen.
Der Große Sprung nach vorn war eine politische Kampagne, mit der die Kommunistische Partei Chinas die Industrialisierung vorantreiben wollte. Sie scheiterte und führte zur größten bekannten Hungerkatastrophe der Geschichte. Zwischen 1958 und 1962 kamen bis zu 40 Millionen Chinesen ums Leben.
Der Journalist und Buchautor Yang Jisheng zitiert Augenzeugen aus Autobiografien, privaten Briefen und Tagebüchern, hat selbst über zwei Jahrzehnte hinweg Interviews geführt, und analysiert politische Protokolle, offizielle Statistiken und interne Verlautbarungen der KP China. Am Ende macht er aus seiner Haltung kein Geheimnis:
"Mit diesem Buch errichte ich einen Grabstein für meinen Vater, der 1959 an Hunger starb, für die 36 Millionen Chinesen, die an Hunger starben, für das System, das ihren Tod verursachte und vielleicht für mich selbst, da ich dieses Buch schreibe."
Yang Jisheng lebt noch wohlbehalten in China. Und so klar die subjektive Ansage ist, so informativ und genau ist der Bericht.
Über allem steht die Politik der Drei Roten Banner. Sie heißen Generallinie, also Übergang zum Sozialismus mit Hilfe einer Planwirtschaft, der Große Sprung nach vorn, also die rasante Beschleunigung der Industrialisierung ab dem Jahr 1958, und Volkskommune.
Die Volkskommune fasste die ländlichen Kooperativen, Handwerks- und Industriebetriebe zusammen. Sie war das Versuchsmodell auf dem beschleunigten Weg zum Kommunismus. Es war eine radikale Kommune. Den Alltag definierte eine militärische Befehlskette, Privatbesitz war abgeschafft. Man riss den Bauern sogar den häuslichen Herd ab, weil sie von nun an in Volksküchen ihr Essen bekamen, umsonst und unbegrenzt:
"Im Herbst 1958, in den ersten gut zwei Monaten der Kantinen, gab es überall große Fress- und Saufgelage. Seinerzeit existierte bereits eine starke öffentliche Meinung, die der Auffassung war, dass das Ernährungsproblem über den Berg sei, Mao Zedong und andere Führungspersönlichkeiten des Zentralkomitees machten sich Sorgen, ‘was tun, wenn wir zu viel Nahrungsmittel haben?’"
Das war leider nicht das Problem. Maos Einschätzung beruhte auf falschen Angaben der Provinzkader. Diese wollten den utopischen Vorstellungen der Zentrale gerne entgegenkommen und meldeten viel zu hohe Produktionsziffern nach oben.
Währenddessen wurden die Bauern brutal schikaniert. Yang Jisheng sieht die Prügelorgien, Kampfkritiken, den massenhaften Totschlag von angeblichen Klassenfeinden und Weizendieben keineswegs als Entgleisung in den niederen Rängen:
"Unter einem politischen System, wie es in China herrscht, wurde unten nachgeahmt, was oben getan wird. Wenn oben politische Kämpfe stattfinden, wird es unten ebenfalls zu solchen Kämpfen kommen, und je weiter es nach unten geht, umso ausgedehnter und grausamer werden diese Kämpfe."
Und während den Bauern vorgeworfen wurde, Millionen Pfund Weizen abzuzweigen, die ja offensichtlich fehlten, ging ihnen in Wirklichkeit das Essen aus:
"Man aß den Kot von Seidenreihern. Der Seidenreiher ist ein Wasservogel und ernährt sich von Fisch. Sein Kot hat eine bläulich-weiße Farbe und ist geruchlos. Die hungernden Menschen trugen den Seidenreiherkot nach Hause, wuschen ihn, taten ihn in einen Topf, bis er gar war, und aßen ihn."
Man aß alles: Ulmenrinde, Gras, Reisstroh, die Stängel von Mais, die zu Mehl verarbeitet wurden. Yang Jisheng berichtet, wie 10.000 Menschen in die Berge zogen, um 500.000 Pfund Lehm auszugraben, der ebenfalls verarbeitet wurde. Es sah aus wie Mehl, enthielt aber keinerlei Nährstoffe. Und dann gingen die Menschen zu etwas anderem über:
"Ein 14, 15 Jahre altes Mädchen aus dem Dorf Wulidian in Xinyang hat ihren vier, fünf Jahre alten kleinen Bruder umgebracht, gekocht und gegessen. Da ihre Eltern schon verhungert waren, waren nur die beiden Kinder übrig geblieben. Als das Mädchen den Hunger nicht mehr aushielt, hat sie ihr Brüderchen gegessen."
Eltern aßen ihre Kinder, Brüder ihre Schwestern, Männer ihre Frauen und Frauen ihre Männer, halbtote Dörfler aßen die Leichen vor ihren Türen. Der Autor setzt bewusst auf die realistische Schilderung dieser Ereignisse, aber im Grunde ist er auf eine politische Analyse der Schuldfrage aus.
Es fällt nicht immer leicht, diesem Prozess zu folgen. Zum einen hat der Leser innerlich mit den Ereignissen der Hungersnot zu tun. Für ihn ist der historische Fall zunächst eine erschütternde Tragödie. Zum anderen geht es in aller Breite um Grundsatz- und Detailfragen von Politik und Macht im damaligen China.
Yang Jisheng hat während seiner 35 Berufsjahre als Journalist selbst zur KP Chinas gehört. Jetzt arbeitet er sich an eigenen Loyalitäten und Irrtümern ab, ohne dass dies immer deutlich wird.
Aber die Insiderperspektive eines Kommunisten bietet exklusive Einblicke in die politische Kultur und ihre Sprache. So erfahren wir, was es mit den fünf Winden beim Großen Sprung nach vorn auf sich hat, lesen Kampagnenprosa wie jene, mit der Mao Zedong am 15. November 1960 politische Selbstkritik anstoßen will:
"Man muss innerhalb der nächsten Monate entschlossen zu einer grundsätzlichen Korrektur des vollständig in die falsche Richtung gehenden Kommunistischen Windes, des Windes der Schaumschlägereien, der Zwangsanordnungen, der Kaderprivilegien und der blinden Führung in der Produktion ansetzen."
Mao Zedong hat Korrekturen veranlasst, andere Führer der KP Chinas haben das schon viel früher gefordert. Und so kosteten die Winde der Schaumschlägereien, Zwangsanordnungen, Kaderprivilegien und blinden Führung in der Produktion Millionen Menschen das Leben.
Die Opfer sprechen in diesem Buch für sich und gegen das System. Und Yang Jisheng auch. Publizistisch ist das ein gelungener "Großer Sprung nach vorn". Er lässt ahnen, was aus China in dieser Hinsicht noch zu erwarten ist.
Yang Jisheng: Grabstein - Mùbei. Eine Dokumentation der großen chinesischen Hungerkatastrophe 1958-1962
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
S. Fischer Verlag Frankfurt, 21. Juni 2012
Der Journalist und Buchautor Yang Jisheng zitiert Augenzeugen aus Autobiografien, privaten Briefen und Tagebüchern, hat selbst über zwei Jahrzehnte hinweg Interviews geführt, und analysiert politische Protokolle, offizielle Statistiken und interne Verlautbarungen der KP China. Am Ende macht er aus seiner Haltung kein Geheimnis:
"Mit diesem Buch errichte ich einen Grabstein für meinen Vater, der 1959 an Hunger starb, für die 36 Millionen Chinesen, die an Hunger starben, für das System, das ihren Tod verursachte und vielleicht für mich selbst, da ich dieses Buch schreibe."
Yang Jisheng lebt noch wohlbehalten in China. Und so klar die subjektive Ansage ist, so informativ und genau ist der Bericht.
Über allem steht die Politik der Drei Roten Banner. Sie heißen Generallinie, also Übergang zum Sozialismus mit Hilfe einer Planwirtschaft, der Große Sprung nach vorn, also die rasante Beschleunigung der Industrialisierung ab dem Jahr 1958, und Volkskommune.
Die Volkskommune fasste die ländlichen Kooperativen, Handwerks- und Industriebetriebe zusammen. Sie war das Versuchsmodell auf dem beschleunigten Weg zum Kommunismus. Es war eine radikale Kommune. Den Alltag definierte eine militärische Befehlskette, Privatbesitz war abgeschafft. Man riss den Bauern sogar den häuslichen Herd ab, weil sie von nun an in Volksküchen ihr Essen bekamen, umsonst und unbegrenzt:
"Im Herbst 1958, in den ersten gut zwei Monaten der Kantinen, gab es überall große Fress- und Saufgelage. Seinerzeit existierte bereits eine starke öffentliche Meinung, die der Auffassung war, dass das Ernährungsproblem über den Berg sei, Mao Zedong und andere Führungspersönlichkeiten des Zentralkomitees machten sich Sorgen, ‘was tun, wenn wir zu viel Nahrungsmittel haben?’"
Das war leider nicht das Problem. Maos Einschätzung beruhte auf falschen Angaben der Provinzkader. Diese wollten den utopischen Vorstellungen der Zentrale gerne entgegenkommen und meldeten viel zu hohe Produktionsziffern nach oben.
Währenddessen wurden die Bauern brutal schikaniert. Yang Jisheng sieht die Prügelorgien, Kampfkritiken, den massenhaften Totschlag von angeblichen Klassenfeinden und Weizendieben keineswegs als Entgleisung in den niederen Rängen:
"Unter einem politischen System, wie es in China herrscht, wurde unten nachgeahmt, was oben getan wird. Wenn oben politische Kämpfe stattfinden, wird es unten ebenfalls zu solchen Kämpfen kommen, und je weiter es nach unten geht, umso ausgedehnter und grausamer werden diese Kämpfe."
Und während den Bauern vorgeworfen wurde, Millionen Pfund Weizen abzuzweigen, die ja offensichtlich fehlten, ging ihnen in Wirklichkeit das Essen aus:
"Man aß den Kot von Seidenreihern. Der Seidenreiher ist ein Wasservogel und ernährt sich von Fisch. Sein Kot hat eine bläulich-weiße Farbe und ist geruchlos. Die hungernden Menschen trugen den Seidenreiherkot nach Hause, wuschen ihn, taten ihn in einen Topf, bis er gar war, und aßen ihn."
Man aß alles: Ulmenrinde, Gras, Reisstroh, die Stängel von Mais, die zu Mehl verarbeitet wurden. Yang Jisheng berichtet, wie 10.000 Menschen in die Berge zogen, um 500.000 Pfund Lehm auszugraben, der ebenfalls verarbeitet wurde. Es sah aus wie Mehl, enthielt aber keinerlei Nährstoffe. Und dann gingen die Menschen zu etwas anderem über:
"Ein 14, 15 Jahre altes Mädchen aus dem Dorf Wulidian in Xinyang hat ihren vier, fünf Jahre alten kleinen Bruder umgebracht, gekocht und gegessen. Da ihre Eltern schon verhungert waren, waren nur die beiden Kinder übrig geblieben. Als das Mädchen den Hunger nicht mehr aushielt, hat sie ihr Brüderchen gegessen."
Eltern aßen ihre Kinder, Brüder ihre Schwestern, Männer ihre Frauen und Frauen ihre Männer, halbtote Dörfler aßen die Leichen vor ihren Türen. Der Autor setzt bewusst auf die realistische Schilderung dieser Ereignisse, aber im Grunde ist er auf eine politische Analyse der Schuldfrage aus.
Es fällt nicht immer leicht, diesem Prozess zu folgen. Zum einen hat der Leser innerlich mit den Ereignissen der Hungersnot zu tun. Für ihn ist der historische Fall zunächst eine erschütternde Tragödie. Zum anderen geht es in aller Breite um Grundsatz- und Detailfragen von Politik und Macht im damaligen China.
Yang Jisheng hat während seiner 35 Berufsjahre als Journalist selbst zur KP Chinas gehört. Jetzt arbeitet er sich an eigenen Loyalitäten und Irrtümern ab, ohne dass dies immer deutlich wird.
Aber die Insiderperspektive eines Kommunisten bietet exklusive Einblicke in die politische Kultur und ihre Sprache. So erfahren wir, was es mit den fünf Winden beim Großen Sprung nach vorn auf sich hat, lesen Kampagnenprosa wie jene, mit der Mao Zedong am 15. November 1960 politische Selbstkritik anstoßen will:
"Man muss innerhalb der nächsten Monate entschlossen zu einer grundsätzlichen Korrektur des vollständig in die falsche Richtung gehenden Kommunistischen Windes, des Windes der Schaumschlägereien, der Zwangsanordnungen, der Kaderprivilegien und der blinden Führung in der Produktion ansetzen."
Mao Zedong hat Korrekturen veranlasst, andere Führer der KP Chinas haben das schon viel früher gefordert. Und so kosteten die Winde der Schaumschlägereien, Zwangsanordnungen, Kaderprivilegien und blinden Führung in der Produktion Millionen Menschen das Leben.
Die Opfer sprechen in diesem Buch für sich und gegen das System. Und Yang Jisheng auch. Publizistisch ist das ein gelungener "Großer Sprung nach vorn". Er lässt ahnen, was aus China in dieser Hinsicht noch zu erwarten ist.
Yang Jisheng: Grabstein - Mùbei. Eine Dokumentation der großen chinesischen Hungerkatastrophe 1958-1962
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
S. Fischer Verlag Frankfurt, 21. Juni 2012