Chinas Dissidenten

Drei Generationen Widerstand

27:26 Minuten
Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz umringen einen Panzer mit Soldaten der Volksbefreiungsarmee.
Friedliche Proteste auf dem Tiananmen-Platz am 20. Mai 1989. Gute zwei Wochen später schlug die Armee die Proteste gewaltsam nieder. © picture alliance / dpa / Catherine Henriette
Von Annabell Brockhues · 21.07.2022
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Sie kämpfen für Freiheit und Demokratie in China und Hongkong, auch wenn sie ihre Heimat verlassen mussten: ein Studentenanführer von 1989, eine Netzaktivistin und eine Studentin. Sie leben im Exil, haben alles zurück gelassen, aber noch Hoffnung.
Jessie Mou ist noch ein Kind, als die Demokratie-Proteste in China beginnen: "Es wurde jeden Tag im Fernsehen und in der Zeitung darüber berichtet. Meine Eltern haben beim Essen darüber diskutiert. Ich war zwar erst sieben Jahre, aber ich habe verstanden, worum es geht."
Als die Studierenden in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens in den Hungerstreik treten und wenig später die Panzer der chinesischen Volksbefreiungsarmee durch die Hauptstadt rollen, lebt sie mit ihren Eltern in Chongqing, im Süden des Landes.
"Nach dem Tiananmen-Massaker 1989 habe ich nicht mehr geglaubt, dass China sich zum Besseren verändern könnte. Die Kommunistische Partei hat klar gemacht: Wir töten Menschen, die friedlich demonstrieren. Ich glaube, diese Logik hat sich nicht geändert."
Jessie ist heute 40 - lebt im Exil. Als Aktivistin kämpft sie für Freiheit und Demokratie in ihrer Heimat. Spricht über die Toten auf dem Platz des Himmlischen Friedens, was sie in China nicht könnte.

Hongkongerin: "Freiheit ist unser Geburtsrecht"

Nur in Hongkong gibt es ein öffentliches Gedenken an die Proteste und ihre Opfer. Zumindest bis 2020, erinnert sich Chung Ching Kwong. Die 26-Jährige wächst in der Millionen-Metropole auf, lernt in der Schule, was 1989 auf dem Festland passiert, aber in Hongkong undenkbar scheint. Gibt es hier doch die Zusage: „Ein Land, zwei Systeme.“
Soldaten der Volksarmee stürmen den Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) in Peking, auf dem Studenten für mehr Demokratie, Pressefreiheit und gegen Parteiprivilegien demonstrierten
Soldaten stürmen den Platz des Himmlischen Friedens: "Nach dem Tiananmen-Massaker 1989 habe ich nicht mehr geglaubt, dass China sich zum Besseren verändern könnte", sagt Jessie Mou.© picture-alliance / dpa / AFP
"Ich dachte, diese Freiheit ist unser Privileg und Geburtsrecht. Ich habe sie für selbstverständlich gehalten. Tiananmen hat mir keine Angst gemacht – aber ich wusste davon."
Der 4. Juni 1989 ist für die junge Aktivistin eine Ermahnung, hart für ihre Freiheit zu kämpfen.

Studentenführer flieht nach Taiwan

Einer der Anführer der Studentenbewegung 1989 ist Wu‘er Kaixi. Er ist damals 21 Jahre alt. Heute sagt er: "Die 80er waren eine aufregende Zeit. Wir haben gehofft, dass das Land sich in eine demokratischere Richtung bewegt. Als Studenten, junge Pioniere, wollten wir ganz vorne bei dieser Veränderung dabei sein. Wir haben es nie als Aufstand gegen die Regierung verstanden."
Der Hungerstreik sei ein letztes Mittel gewesen, um der Regierung Druck zu machen. Und tatsächlich: "Als wir in die große Halle gerufen wurden, wo das Treffen mit Li Peng stattfand, dachten wir: Das ist es. Das ist der Moment, in dem die Regierung auf uns zu kommt, eine Lösung finden will, um den Hungerstreik zu beenden."
Ausgezehrt vom Hungerstreik sitzt Wu’er Kaixi in einem großen Lehnstuhl, gegenüber Premierminister Li Peng. Fernsehkameras filmen das Gespräch zwischen den Studentenführern und dem zweitwichtigsten Mann der Kommunistischen Partei.
Die Studenten hoffen auf einen Kompromiss. Stattdessen wird wenige Stunden später das Kriegsrecht ausgerufen. In den folgenden Tagen wird der Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam geräumt und nach den Studentenanführern gefahndet.
"Als meine Freunde hörten, dass die Kommunistische Partei mich nicht lebendig verhaften will, haben sie sich Sorgen gemacht. Sie haben gesagt, ich muss China verlassen. Ich habe nie geglaubt, das wäre möglich. Ich wollte nur nicht in Peking verhaftet werden. Außerhalb Pekings könnte ich vielleicht in Würde verhaftet werden, mein Leben behalten."
Porträt von Wu'er Kaixi, ein Anführer der Studentenbewegung auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989, aufgenommen während einer Pressekonferenz zum Thema Pressefreiheit 2017 in Tokio
Wu'er Kaixi gehörte zu den Anführern der Studentenbewegung auf dem Tiananmen-Platz. Heute arbeitet er als Generalsekretär für die Menschenrechtskommission des taiwanischen Parlaments.© picture alliance / ZUMAPRESS.com / Alessandro Di Ciommo
Mit der Hilfe von Freunden kann Wu’er Kaixi fliehen. Er erinnert sich noch gut an den Moment, als er vom chinesischen Festland Richtung Hongkong schwimmt – zu einem rettenden Boot. Von Hongkong aus flieht er nach Frankreich, in die USA, nach Taiwan.

KP lässt in den 1990ern eine Zivilgesellschaft zu

Nach dem Tiananmen-Massaker legt die Kommunistische Partei politische Reformen auf Eis. Sie wendet sich der Wirtschaft zu: Privatisiert Unternehmen, öffnet den Markt für ausländische Investoren. 1997 übergeben die Briten Hongkong an China als autonome Sonderverwaltungsregion. China tritt der Welthandelsorganisation bei. Jessie Mou ist damals ein Teenager.
"Die Regierung hat es ausländischen NGOs erlaubt, ein Büro in China zu eröffnen. Die NGOs setzten sich für Menschenrechte, Gesundheit, Arbeitsrechte, LGBT, ein. Aber für die chinesische Regierung war alles, was von außen kommt, ein Staatsfeind."
Dennoch: Die KP profitiert vom Ausland, von der Globalisierung. Sie macht das Land zur Werkbank der Welt. Die Volksrepublik erhält den Zuschlag für die olympischen Sommerspiele 2008. Die Hongkongerin Chung Ching Kwong fühlt das erste Mal eine Art chinesischen Nationalstolz.
"Es fühlte sich an, als würde China sich verändern. Als würden sich die Menschenrechte und die soziale Lage verbessern. Zumindest habe ich das damals gedacht."
Stattdessen folgen auf die Olympischen Spiele: mehr Kontrolle, stärkere Restriktionen für die Minderheitenregionen, und ein härteres Durchgreifen gegenüber Dissidenten.

Witz über Liu Xiaobo führt zu Verhaftung

Der Autor und Aktivist Liu Xiaobo wird 2009 verurteilt, weil er an einem Papier mitgearbeitet hat, das freie Wahlen und politische Gewaltenteilung fordert. Ein Jahr später erhält Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis.
Die Aktivistin Jessie Mou ist von der Nachricht erfreut. Ein chinesischer Autor, von der Kommunistischen Partei unter Hausarrest gestellt und verhaftet, bekommt den Friedensnobelpreis.
"Wir waren so begeistert. Auch wenn ich Liu Xiaobo nicht immer zustimme – es war ein sehr positives Signal aus dem Ausland. Und deswegen habe ich auch auf Twitter gefeiert."
Jessie ist zu der Zeit Netzaktivistin. Sie erstellt Webseiten, um an das Tiananmen-Massaker zu erinnern. Sie nutzt Twitter über einen VPN-Zugang, um die chinesische Firewall zu umgehen. Im Oktober 2010 twittert sie einen Witz über „Onkel Xiaobo“ ­ und wird in derselben Nacht in ihrem Zuhause von der Polizei verhaftet.
"Ich habe gehört, dass viele Leute bei der Polizei angerufen und gefragt haben, warum ich festgenommen wurde. Ich habe viel Aufmerksamkeit bekommen aus der ganzen Welt… Auch wenn ich ausgeflippt bin, muss ich sagen: Ich hätte nie erwartet, das ein Witz solche Konsequenzen haben kann. Auf der anderen Seite: Es hat mich ermutigt."

Überwachung wegen digitalem Widerstand

Sie will den Menschen, die sie unterstützt haben, etwas zurückgeben. Doch die Polizei beschattet sie. Während Anfang 2011 die Menschen in Tunesien, Syrien, Ägypten und auch in China auf die Straßen gehen und für mehr Demokratie protestieren, kann Jessie das Haus kaum verlassen. Zu groß ist die Polizeipräsenz: "Die Polizei war sehr deutlich: Wenn ich irgendwo hingehe, verhaften sie mich. Das war sehr stressig."
Als die Beschattung etwas nachlässt, beginnt Jessie für die NGO Civil Rights and Livelihood Watch zu arbeiten. Die NGO recherchiert Menschenrechtsverletzungen in China. Jessie übersetzt die Berichte ins Englische, später recherchiert sie selbst. Sie beschreibt es als Schreibtischarbeit – ohne Möglichkeiten, wirklich etwas zu verändern. Die Polizei überwacht sie weiter.
"Ich habe immer versucht, meine Arbeit zu verstecken, Ich glaube nicht, dass die Polizei wusste, was ich mache. Mein digitales Know-how hat mir dabei geholfen. Ich habe meine Unterlagen auch nie direkt in China aufbewahrt. Aber der Druck war groß, der 'große Bruder' beobachtet dich immer. Das ist hart."
Trotzdem bleibt Jessie in China. Auch, als ihr Chef und andere Kollegen im Zuge von Massenverhaftungen festgenommen werden.

Ausweitung der Überwachung unter Xi Jingping

Als Xi Jinping 2012 an die Spitze der Kommunistischen Partei tritt, verschärft sich die Situation: Er lässt Bürgerrechtsanwälte und Journalisten beschatten und verhaften. Unter seiner Führung entsteht eine Industrie von Zensur- und Überwachungsbehörden. Straßenkameras werden mit Datenbanken verknüpft und können nun die Bewegungen von Hunderten von Millionen Bürgern verfolgen.
In der sogenannten Polizei-Cloud wird die Krankheitsgeschichte, das Surfverhalten im Internet, Essensbestellungen, religiöse Ansichten, selbst die Art der Verhütung abgespeichert. Ein soziales Bonitätssystem mit Pluspunkten für gutes und Minuspunkten für schlechtes Verhalten soll den Alltag der Bevölkerung weiter kontrollieren.
Demonstranten mit Regenschirmen in Hongkong
Zehntausende treffen sich 2014 im Regierungsviertel von Hongkong – und halten Regenschirme zum Schutz vor Sonne, Regen und Tränengas hoch. © picture alliance / dpa
2014 brechen in Hongkong Proteste aus – gegen eine geplante Wahlrechtsreform der Kommunistischen Partei. Die KP wird unruhig. Ihre Reform sieht vor, dass die Hongkonger ihren nächsten Regierungschef frei wählen können, aber die Kandidaten sollen vorab von einem Peking-treuen Gremium ausgewählt werden. Zehntausende treffen sich im Regierungsviertel – und halten Regenschirme zum Schutz vor Sonne, Regen und Tränengas hoch.

Nach Regenschirm-Protesten ins Exil

Auch die damals 18-Jährige Chung Ching Kwong: "Damals war mein Vertrauen in die Regierung komplett zerstört. Ich dachte, man kann es nicht wieder herstellen. Ich war extrem wütend und enttäuscht von der Regierung. Wir haben für etwas protestiert, was sie versprochen haben. Demokratische Wahlen sollten ein grundlegendes Menschenrecht sein."
Gleichzeitig ist sie hoffnungsvoll: Proteste in dieser Größe hatte sie noch nie in Hongkong gesehen. Aber auf dem Festland bekommt man kaum etwas davon mit: Instagram-Posts werden nicht angezeigt, Nachrichten auf Weibo gesperrt oder gelöscht.
Als Demonstranten am 28. September versuchen, auf den Platz direkt vor dem Regierungsgebäude vorzudringen, reagiert die Polizei mit Tränengas und Pfefferspray.
Noch am selben Abend nimmt Chung Ching Kwong ein Video auf. Um ihre Schultern liegt ein rotes Handtuch – gegen das Tränengas und Pfefferspray: "Ich stehe hier als Hongkongerin und bitte euch: Helft uns. Ihr wurdet in demokratischen Staaten geboren. Ihr habt das Geburtsrecht demokratisch zu entscheiden, ihr habt das Wahlrecht. Wir nicht. Helft uns. Verbreitet die Nachricht."
79 Tage dauert die Regenschirm-Bewegung. Als ihre Zeltstadt geräumt wird, ordnen sich die Demonstranten neu in zivilgesellschaftlichen Gruppen. Einige der Aktivisten wollen bei den Parlamentswahlen antreten - Chung Ching unterstützt eine demokratische Kandidatin im Wahlkampf.
In der Uni ist Chung Ching nur selten. Sie tut alles für die Demokratiebewegung. Bis sie feststellt: Weder Proteste noch Lobbyarbeit noch Kampagnen können viel gegen die Kommunistische Partei in Peking und ihren Einfluss in Hongkong ausrichten.
"Es ist wie eine Flaschenhalssituation gewesen 2016. Wir haben innerhalb und außerhalb des Sytems gekämpft – nichts hat funktioniert. Also haben wir uns zurückgezogen."
Chung Ching trifft eine Entscheidung: Hongkong zu verlassen. In Deutschland zu studieren, sich im Master auf Datenschutz und digitale Überwachung zu fokussieren. Und die damals 20-Jährige will eine Pause machen – weniger Aktivistin, mehr Studentin sein.

Netzaktivistin hat neues Leben in Großbritannien

Jessie Mou lacht, wenn sie über ihr Alter spricht. Sie lebt jetzt mit 40 in Großbritannien in einem Studentenwohnheim und erfüllt sich einen Traum: Politik studieren, frei von der Ideologie der Kommunistischen Partei.
Anfang des Jahres schreibt sie auf ihrem Blog, sie habe ein neues Leben begonnen: "Hier gibt es eine wunderschöne, weite Landschaft. Ich fahre mit dem Fahrrad zum Markt einkaufen, koche für mich oder Freunde. Ich mag es hier. Es ist friedlich. Und die Menschen sind großartig und helfen mir."
Wo genau die Dissidentin ist, kann sie nicht öffentlich sagen. Ihre Eltern in China wurden erst vor Kurzem wieder von der Polizei verhört.
"Sie wollen wissen, wo ich bin. Aber meine Mutter hat nur gesagt, die Welt ist groß. Sie wird irgendwo sein. Ich habe ihr gesagt, sie soll den Polizisten sagen, ich gehe sie nichts mehr an."

"Demokratie, Freiheit, Menschenrechte sind das, was ich will"

Jessie verlässt China 2019 freiwillig – mehr oder weniger. Durch ihre Arbeit als Menschenrechtsverteidigerin hat sie tiefe Einblicke in die Strategien der chinesischen Regierung. Sie befürchtet das Schlimmste für ihre Heimat.
"Ich weiß nicht, wie sie es machen wollen. Aber ich glaube, das ganze Land wird wie Xinjiang umgebaut – die Uiguren-Region. Jemand wie ich wird verhaftet werden. Deswegen habe ich alles versucht, hierher zu kommen. Es ist nicht mein Wunschziel. Aber es war ein gefährlicher Moment für mich. Ich glaube, meine Arbeit hat nie jemandem geholfen – außer mir."
Das klingt entmutigend. Aber Jessie macht in Großbritannien weiter, hat politisches Asyl erhalten. recherchiert zu Menschenrechtsverletzungen in China. In den vergangenen zwei Jahren arbeitet sie mit anderen Menschenrechtsorganisationen in Europa zusammen und spricht in britischen Schulen über ihre Arbeit.
"Ich habe es nie als Verpflichtung wahrgenommen. Demokratie, Freiheit, Menschenrechte sind das, was ich will. Ich werde immer dafür kämpfen, egal wo. Ich mache es für mich. Ich lebe in einem freien Land, ich kann meine Arbeit ausweiten und mehr Menschen über die Menschenrechtssituation in China berichten."

Aktivistin kehrt 2019 nach Hongkong zurück

2019 regt sich erneut Widerstand in Hongkong. Dieses Mal gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz. Bisher war die Justiz in Hongkong unabhängig, auch ein Auslieferungsabkommen mit China gibt es nicht. Das soll sich ändern. Einige Hongkonger fürchten, dass China dadurch vor allem Menschenrechtler und Mitglieder der Hongkonger Demokratiebewegung ins Gefängnis bringen könnte. Chung Ching wird wieder zur Aktivistin.
Porträt der Aktivistin Chung Ching Kwong bei einer Pressekonferenz zu Lage in Hongkong in Berlin
Die Aktivistin Chung Ching Kwong aus Hongkong kämpft von Deutschland aus für Demokratie und Freiheit - sie leidet unter ihrer Exilsituation.© imago images / Reiner Zensen
"Im Juni ging die Massenbewegung los. Meine Pause war sofort vorbei. Ich habe den Livestream aus Hongkong verfolgt, meine Freunde bei den Protesten gesehen. Ich konnte das nicht ignorieren und mein Leben weiter leben."
Erst versucht sie, die Proteste von ihrem Studentenwohnheim aus zu unterstützen. In den Semesterferien reist sie nach Hongkong, um zu protestieren. An einigen Tagen sind mehr als eine Million Menschen auf den Straßen. Alle wissen, was auf dem Spiel steht: die Freiheit Hongkongs. Die Stimmung sei nicht so hoffnungsvoll gewesen wie 2014, sondern aggressiver.
"Es war nicht mehr das Hongkong, was ich kannte. Alles hat sich anders angefühlt. Die Straßen war nicht sicher. Selbst als Passant konntest du verprügelt oder mit Pfefferspray besprüht werden von der Polizei. Ich habe realisiert, es wird nie wieder wie früher. Hongkong hat eine Grenze überschritten. Jeder wurde politisch – selbst wenn man es nie wollte."
Die Hongkonger Polizei setzt Pfefferspray, Tränengas und Schlagstöcke gegen die Demonstranten ein. Organisierte Schlägertrupps greifen gezielt Regierungsgegner an. Einige Demonstranten treten militant auf, zerstören Läden und setzen U-Bahn-Ausgänge in Brand. Hunderte Demonstranten werden verhaftet.

Petition: Deutsche Regierung soll China sanktionieren

Fast anderthalb Jahre dauern die Proteste. Bei den Kommunalwahlen erringt das Demokratie-Lager noch einen Erdrutschsieg. Aber im Juni 2020 tritt ein umstrittenes Sicherheitsgesetz in Kraft. Es stellt alles unter Strafe, was als oppositionell oder separatistisch gilt – dazu gehören auch Rufe nach Demokratie und Freiheit. Das Sicherheitsgesetz gilt als Ende des freien Hongkongs. Einige Aktivisten beantragen politisches Asyl im Ausland – Chung Ching geht zurück nach Deutschland.
"Die Entscheidung, zurück nach Deutschland ins Exil zu gehen, war schwer. Ich wollte nicht meine Schwester verlassen. Ich wusste, wenn ich gehe, kann ich nicht zurück, zumindest nicht so bald. Aber ich musste noch Sachen zu Ende bringen."
In Deutschland hat die 26-Jährige eine Petition gestartet, damit die deutsche Regierung China sanktioniert. Sie spricht und schreibt über Hongkong. Sie hat Kontakte im Ausland, die sie nutzen will, die sie nutzen muss: "Ich habe mit einer Freundin, einer Aktivistin gesprochen. Sie sagte: Ihr Job sei es, ins Gefängnis zu gehen. Ich hätte eine andere Rolle. Ich müsste der Welt erzählen, was in Hongkong passiert und beenden, was ich angefangen habe."

Schuldgefühle und Trauertage

Chung Ching fühlt als Aktivistin eine Verpflichtung und eine Schuld: "Diese Schuld, meine Kollegen und Freunde, meine Stadt zurückgelassen zu haben, ist immer da. Ich sitze hier im Park und trinke Tee, während sie im Gefängnis leiden. Sie können nicht mal einen Brief schreiben, ohne kontrolliert zu werden. Sie können nicht offen reden, wie ich. Ich sitze hier und lebe ein freieres Leben. Und ich glaube nicht, dass ich mich jemals damit anfreunden oder es lösen kann."
Um diese Gefühle von Schuld und Verantwortung zu bewältigen, arbeitet sie viel und hart. Ihre Doktorarbeit leidet darunter.
Dazu kommt eine weitere Bürde: Das Gefühl, als Aktivistin auf ein Podest gestellt zu werden, als jemand Besonderes, Mystisches wahrgenommen zu werden. Dabei sei sie weder besonders noch mystisch – sie habe sich einfach nur entschieden, für Demokratie und Freiheit einzustehen. Und deswegen redet sie auch ganz bewusst über ihre eigene Verletzlichkeit im Exil.
"Im Exil erwarten die Menschen, dass du eine ermutigende Person bist, immer hoffnungsvoll und optimistisch. Ehrlich gesagt, das stimmt nicht. Ich habe schlechte Tage, an denen ich nur im Bett liege, Eis esse und nichts machr außer weinen, weil wieder ein Freund verhaftet wurde. Und ich glaube nicht, dass das besonders ermutigend oder resilient klingt, im Bett liegen und weinen."

Ex-Studentenführer will sich KP ausliefern

Exil ist Folter, das weiß auch Wu’er Kaixi. Seit 33 Jahren lebt er im Exil und warnt vor der Kommunistischen Partei.
Es gibt Zeiten, in denen er zweifelt, ob sein Aktivismus etwas bringt. Er hat das Gefühl, nicht zu den Menschen und Politikern durchzudringen, wenn er vor der Kommunistischen Partei warnt.
2009 – 20 Jahre nach dem Massaker, 20 Jahre im Exil – werden diese Zweifel besonders laut. Er entschließt sich, sich selbst an die Volksrepublik China und die Kommunistische Partei auszuliefern. In der Hoffnung, seine Eltern wiederzusehen – und mit den Erlebnissen von 1989 abzuschließen.
Er versucht über Macau einzureisen – und wird abgewiesen. Insgesamt vier Mal probiert er es – nach Macau über Hongkong, die Botschaften in Tokio und Washington. Warum er immer wieder abgewiesen wird, weiß er nicht.
"Ich glaube, sie wollen nicht den Dialog mit mir haben, den ich haben will. Wenn sie mich verhaften, müssen sie mich vor Gericht stellen. Und da kann ich den Dialog haben. Aber es wird nicht das Ergebnis, was wir uns 1989 erhofft haben, es ist eine fortlaufende, unerledigte Aufgabe."

Erfüllende Arbeit für taiwanisches Parlament

Heute zweifelt er seltener. Er sei in einer anderen Position, in einer besseren. Er arbeitet als Generalsekretär für die Menschenrechtskommission des taiwanischen Parlaments.
"Ich habe eine einzigartige Position, Aufmerksamkeit zu erregen. Ich muss nicht mehr so laut schreien, damit die Welt zuhört."
Wu’er Kaixi wird als Studentenführer bekannt. Aber er ist auch Uigure – und damit Teil der muslimischen Minderheit, die von der chinesischen Regierung in sogenannte Umerziehungslager gebracht werden. Ein Grund mehr, Aktivist zu sein.
"Es ist erfüllend, jeden morgen aufzuwachen und zu wissen, ich bin Aktivist, und ist gut."

"Ich vermisse mein Zuhause wie einen Ex-Freund"

Die 26-Jährige Chung Ching kann noch nicht richtig greifen, was Exil für sie bedeutet. Dass sie erstmal nicht nach Hongkong zurückkehren kann, sei klar – aber schwer zu akzeptieren. Es fühle sich an wie nach einer Trennung.
"Ich trauere noch. Ich vermisse mein Zuhause wie einen Ex-Freund nach der Trennung. Es sind dieselben Gedanken: Ich will dich zurück, wir waren glücklich, warum geht es nicht. Ich weiß, es gibt keine Antwort. Und damit muss ich jeden Tag fertig werden."
Jessie Mou – die Netzaktivistin und Menschenrechtsverteidigerin - kämpft mit derselben Unsicherheit. Aber sie hält sich an dem fest, was sie durch das Exil bekommen hat: Freiheit: "Auf der einen Seite musste ich meine Eltern im Süden Chinas verlassen, die mich so lieben. Und meine zwei Katzen. Ich weiß nicht, ob ich sie je wiedersehe. Aber ich hoffe es. Auf der anderen Seite habe ich Freiheit. Ich muss keine Angst mehr haben, mitten in der Nacht wegen eines Tweets verhaftet zu werden."
Wu’er Kaixi hat in 33 Jahren Exil eins geholfen: Hoffnung.
"Du musst ein Romantiker sein. Du jagst einer Hoffnung nach, die weit weg ist. Aber du bist sicher, sie ist da. Du musst Vertrauen haben."

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