Charlotte Wiedemann: "Der neue Iran"

Bösewicht, Gottesstaat und Hort großer Hoffnungen

Buch "Der neue Iran" vor dem Hintergrund einer Baustelle in einem Bergdorf im Iran
Buch "Der neue Iran" vor dem Hintergrund einer Baustelle in einem Bergdorf im Iran © dpa / MAXPPP / dtv-Verlag
Von Carsten Hueck · 29.04.2017
Findigkeit, Regelbruch und ein immer wieder neues Aushandeln - das ist der Alltag im Iran. Die Journalistin Charlotte Wiedemann stellt in ihrer Gesellschaftsanalyse des Landes das Bild vom allgegenwärtigen Gottesstaat in Frage.
Viel zu lange schon und immer noch neigt man im Westen dazu, den Iran als bloß totalitären Staat wahrzunehmen, regiert von einer Kaste religiöser Mullahs, beherrscht von fanatischen Revolutionsgardisten. Der Iran ist der große Feind – für die USA, für Israel und Saudi Arabien.
Dass der Vielvölkerstaat zwischen Kaspischem Meer und Persischem Golf aber seit der Revolution 1979 eine rasante Entwicklung gemacht und ein weitaus vielschichtigeres Gesicht hat, dass er widersprüchlich, Machtbewusstsein und modern, repressiv und fortschrittlich, ist, macht das neue Buch der vielfach ausgezeichneten Journalistin und Autorin Charlotte Wiedemann klar.

Kant und Habermas und Aktivisten der Imam-Ali-Gesellschaft

Immer wieder hat sie das Land bereist, Menschen jeglichen Alters und Geschlechts gesprochen, ihren Alltag geteilt. Sie ist in das iranisch-kurdische Grenzgebiet gefahren, hat religiöse Heiligtümer besucht, aber auch Theater, Bars und Shopping Malls. In den Teheraner Buchhandlungen fand sie die Texte von Kant, Habermas und Hannah Arendt, in einem gesichtslosen Büroraum Aktivisten der Imam-Ali-Gesellschaft: 1999 als studentisches Projekt zur Unterstützung von Kindern benachteiligter Familien entstanden, ist diese heute ein Paradebeispiel für zivilgesellschaftliches Engagement.
Die Imam-Ali-Gesellschaft fordert Freiheit für alle religiöse Ansichten und Gleichstellung der Menschen, unabhängig von Ethnie und Geschlecht. Mitglieder der Gruppe geben Straßenkindern Unterricht, betreuen Obdachlose. Und sie entwerfen Kampagnen, um zum Tode Verurteilten das Leben zu retten: Im Iran haben im Fall von Totschlag und Mord die Angehörigen der Opfer das letzte Wort. Der Staat muss ein Todesurteil aufheben, wenn die Angehörigen dem Täter verzeihen, bzw. diesem die Möglichkeit gewähren, sich von seiner Schuld freizukaufen – für Wiedemann ein Beispiel dafür, dass die Justiz im Iran kein monolithischer Block ist. Ebenso wenig wie die Zensurbehörde. Die Autorin berichtet von einem Beamten dort, den sie abends überraschend als Betreiber eines Boulevardtheaters wiedertrifft. "Jeder Arbeitsplatz hat seine eigene Atmosphäre", erklärt er ihr.

Eine Geschichte geprägt von Traumata

Findigkeit und Regelbruch, immer neues Aushandeln - ob es um Alkohol, Internetportale zur Partnersuche, vorehelichen Geschlechtsverkehr, Satellitenfernsehen, die Stellung der Frau, Religionsausübung oder Hundehaltung geht - ist im Iran ein Massenphänomen, das macht die Autorin deutlich. Und noch etwas:
Die Geschichte der Iraner ist geprägt von Traumata - jahrhundertelang konkurrierten imperiale Mächte auf ihrem Territorium. Eigene Freiheitsbestrebungen wurden erstickt, und als der Irak das nachrevolutionäre Land 1980 überfiel, weigerte sich der UN-Sicherheitsrat, ihn dafür zu verurteilen. An dieser Stelle entschied die iranische Führung, das Nuklearprogramm des Landes wieder aufzunehmen - das Ayatollah Khomeini eingestellt hatte.
Charlotte Wiedemann bekennt, dass ihre Eindrücke subjektiv und von Sympathie für das Land getragen sind.
Die Schattenseiten der Islamischen Republik Iran blendet sie dennoch nicht aus. Und so ist ihr Buch ein Augenöffner für interessierte Leser, die mehr erfahren wollen, als das, was Trump und Netanyahu über den Iran zu sagen haben. Als diabolisches Zerrbild erscheint er heute nurmehr den Einäugigen.

Charlotte Wiedemann: Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten
dtv, München 2017, 304 Seiten, 22 Euro

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