Charlotte Roth über ihre Familiengeschichte

Die Tragödie der "Gustloff" und das heutige Flüchtlingsdrama

Undatierte Aufnahme des deutschen KdF-Schiffes "Wilhelm Gustloff"
Undatierte Aufnahme der "Wilhelm Gustloff". Im Januar 1945 wurde das mit mehreren tausend Menschen überbesetzte Schiff von einem russischen U-Boot in der Ostsee versenkt. © picture-alliance/dpa/DB
Charlotte Roth im Gespräch Joachim Scholl |
Autorin Charlotte Roth hat ausgehend von den Toten im Mittelmeer und ihrer eigenen Familiengeschichte den Roman "Wenn wir wieder leben" geschrieben. Darin geht es um das Leben in Zoppot und Gdansk in der Vorkriegszeit und den Untergang der "Gustloff".
Joachim Scholl: Eigentlich heißt sie Charlotte Lyne, aber die literarische Welt und hunderttausende von Lesern kennen sie unter verschiedenen Schriftstellerpseudonymen. Uns interessiert heute Charlotte Roth, unter diesem Namen veröffentlicht die gebürtige Berlinern großformatige Romane mit ebensolchen Frauengestalten, beeindruckenden Heldinnen im oft dunkelsten Kontext deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Dort ist auch der neueste Roman von Charlotte Roth angesiedelt, "Wenn wir wieder leben". Er führt ins Danzig der Vorkriegszeit und während des Krieges, erzählt von Verfolgung, Gewalt, Flucht und Untergang. Charlotte Roth lebt mit ihrer Familie in London, und dort sitzt sie jetzt in einem Studio der BBC.
Willkommen im Deutschlandfunk Kultur, Frau Roth!
Charlotte Roth: Vielen Dank! Guten Morgen!
Scholl: Guten Morgen! Ich hätte Sie auch auf Polnisch begrüßen können.
Roth: Das wäre auch sehr schön gewesen, auch wenn mein Polnisch sehr verrostet ist.
Scholl: Denn mit Ihrer jungen Heldin Wanda müssen Sie Polnisch gelernt haben, oder?
Roth: Ein bisschen. Also ich habe mal ein paar Worte gelernt, und ich war auch sehr viel in Polen, aber mein Polnisch ist schlecht.

"Zoppot ist die Heimat meiner Großmutter"

Scholl: "Dies ist mein persönlichstes Buch" schreiben Sie im Nachwort, Frau Roth. Warum ist es das?
Roth: Unbedingt, unbedingt. Also das Buch spielt in Gdansk und in Zoppot. Das ist die Heimat meiner Großmutter, bei der ich sehr, sehr intensiv aufgewachsen bin. Also sie wohnte bei uns um die Ecke. Ich war immerzu dort und war ganz doll gerne dort. Sie hat sich immer gefreut, wenn ich da war und hat dann viele, viele Geschichten erzählt, und wenn sie also von Gdansk gesprochen hat oder gar von Zoppot, dann war das so, wie wenn andere Menschen vom Garten Eden oder vom Paradies sprechen. Sie hat gar nicht viel gesagt, aber allein wie sie die Worte ausgesprochen hat, das war umwerfend. Wir sind alles sehr, sehr viele Kinder und Enkel, sie hatte also ein riesige Schar von Nachkommen, aber es hat sich keine von uns getraut, zu ihr zu sagen, du, weißt du was, Omi, wir fahren da mal wieder mit Dir hin. Sie ist also nie wieder dort gewesen, und wir alle auch nicht.
Scholl: Wie sind Sie denn dann literarisch wieder nach Gdansk gekommen, Frau Roth? Wie sind Sie auf die Geschichte gekommen?
Roth: Also ich beschäftige mich, wie wohl sehr, sehr viele Menschen im Moment, mit den Tragödien der ertrinkenden Flüchtlinge im Meer, und wenn man da ein bisschen blättert, dann kommt man auf die Geschichte der Wilhelm Gustloff, die mit möglicherweise bis zu 9.000 Menschen untergegangen ist. Ich möchte da jetzt nicht allzu viel drauf eingehen, denn davon handelt ja mein Buch.
Scholl: Also im Januar 1945 war das.
Roth: Ja, genau. Und ich war also sofort so gefangen, ich habe gedacht, ich muss von dieser Geschichte erzählen, und eigentlich erst, als ich dann meine Programmleiterin, meine Lektorin drauf angesprochen habe, ist mir klar geworden, um Gottes Willen, wenn die jetzt ja sagen, dann muss ich mich trauen, dann muss ich nach Gdansk, dann muss ich da sozusagen mich auf die Spur von meiner Großmutter begeben.
Scholl: Was war das denn dann für eine Reise, für ein Erlebnis?
Roth: Unglaublich, unglaublich. Einmal bin ich mit meiner Familie mit dem Flugzeug geflogen. Das war noch nicht mal so beeindruckend, weil ich eben meine Familie dabei hatte. Als ich das zweite Mal dann aus Berlin mit dem Zug fuhr und in Zoppot abends ausstieg, hatte es nach dem Hagebuttentee gerochen, den sie immer gemacht hat, und ich hatte das Gefühl, ich muss jetzt sofort nach einer Telefonzelle suchen und ihr Bescheid sagen, Omi, ich bin da, der Zug hat Verspätung, aber ich bin gleich bei dir. Sie ist 1993 gestorben. Also es war umwerfend.


Scholl: Es gibt mehrere starke weibliche Heldinnen in Ihrem Buch, Frau Roth. Zunächst ist da Wanda, eine junge Frau von 19 Jahren mit polnischen Wurzeln, die im Berlin der frühen 1960er-Jahre auf ein Familiengeheimnis stößt, das sie eben nach Danzig führt, auf den Spuren ihrer Mutter, Gundi, die mit drei Freunden im Vorkriegs-Danzig eine Band gründet, die bald rauschenden Erfolg hat im mondänen Badeort Zoppot, vor den Toren Danzigs. Man hat es damals das Monte Carlo des Ostens genannt, und Sie malen diese Zeit neu aus in Ihrem Roman, oder Sie blättern dieses Kapitel überhaupt noch mal auf. Was war das für eine Zeit?
Cover "Wenn wir wieder leben" von Charlotte Roth
Cover "Wenn wir wieder leben", im Hintergrund Zoppot bei Danzig um 1935.© Knaur-Verlag/imago/Arkivi
Roth: Diese Zeit, direkt vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, das ist wie so eine Zeitkapsel, in der ganz, ganz viel Hoffnungen auf eine ganz andere Zeit bestanden und in der das Leben in dieser Region regelrecht explodierte. Danzig war ja ein Sonderfall zusammen mit Zoppot und Gdingen, Zoppot und Danzig waren zur Freistadt erklärt worden, Gdingen war polnisch, war also ein kleiner Kosmos für sich. Es wurde dort in den späten 20er-Jahren dieses riesige Hotel, mondäne Hotel gebaut mit einem Kasino, wo also wirklich Vermögen verloren und gewonnen wurden, und die Leute dort, die meisten hatten viel Geld, am Strand, die haben dort wie ein ewiges Fest gefeiert, als würde diese Zwischenkriegszeit, wie wir sie heute nennen, überhaupt nicht zu Ende gehen, und haben eigentlich, soweit es möglich war, die Augen zugemacht vor der Gefahr, die da wieder aufzog. Es ist ganz viel Musik gemacht worden. Wenn man heute in Zoppot ist, spürt man diese Atmosphäre auch noch ganz intensiv. Also das ist wie eine Zeitreise.
Scholl: Wie sind Sie auf diese Idee mit der Musikkapelle gekommen? Gab es da auch irgendwie eine Art Vorbilder oder familiäre Bezüge?
Roth: Ach ja, das kann man schon so sagen. Also wir haben auch viele Musiker, Musikliebhaber in der Familie, und dieses Grand Hotel, das hat mich auch durch meine Großmutter, durch Erzählungen, sehr, sehr interessiert, und dass dort Jazz gespielt worden ist, dass dort Swing gespielt worden ist, dass das dann mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen aufhören sollte, aber nicht aufgehört hat, weil die Leute das ja geliebt haben, diese Musik, und auch diese Frage, die interessiert mich grundsätzlich: Wenn ich so ein Talent habe, so eine Leidenschaft habe, wenn ich Musiker bin oder Sportler, und es kommt eine solche Zeit, in der diese Dinge, Kultur, Sport, all das nicht mehr frei sind, in der sie zu Propagandazwecken benutzt werden, wie verhalte ich mich da eigentlich, wie gehe ich mit meinem Talent um. Das finde ich als Frage ganz interessant.
Scholl: Danzig-Langfuhr, der Ortsteil wird auch erwähnt, Zoppot, die Zeit vor dem Krieg, dann denkt man natürlich an "Die Blechtrommel", das ist so ein bisschen auch Günter-Grass-Country. Ich vermute, dass Sie auch da in diese literarische Welt wieder eingetaucht sind, oder?
Roth: Also ich liebe Günter Grass, ich liebe "Die Blechtrommel", und er hat das eben mit meiner Großmutter wirklich gemeinsam. Sie ist auch in Langfuhr geboren, und dort, wo also meine männliche Hauptfigur, Pop, wohnt, dort hat sie auch gewohnt, und für mich war es ganz toll, dass ich also "Die Blechtrommel", die ich als ganz junge Frau geliebt habe, jetzt auch noch mal lesen konnte.

"Was werden unsere Enkel uns mal für Fragen stellen"

Scholl: Wir dürfen wirklich nicht allzu viel verraten, was und wie sich alles ereignet um Gundi. Es wird hochdramatisch, tragisch auch, hin bis eben zur letzten Fahrt der Wilhelm Gustloff, aber diese reine Erzählebene, die historische Erzählebene, die wird durch Wandas Recherche auch in den Zusammenhang von Verbrechen und Schuld gestellt, also nicht zufällig beginnt gerade der Auschwitzprozess, als Wanda mit ihrer Spurensuche beginnt. Das habe ich eigentlich auch so als das eigentliche Ziel Ihres Romans gesehen: Schuld, Sühne und Vergebung, oder?
Roth: Ja, oder das zweite Leben eben damit. Also dieser Moment, der Beginn des Auschwitzprozesses, der Beginn der Studentenbewegung, dieser Moment, in dem diese neue Generation anfängt, ihre Eltern zu fragen, was habt ihr eigentlich gemacht in der Zeit, wie seid ihr damit umgegangen. Das interessiert mich ganz doll, denn auch in aktueller Hinsicht, auch als Mutter und Großmutter, die sich überlegt, was werden unsere Enkel uns mal für Fragen stellen in Bezug auf die schlimmen Krisen unserer eigenen Zeit. Das finde ich ganz interessant, und dann auch natürlich die Frage, wie lebt diese Generation jetzt damit, wie geht sie mit ihren Eltern um, mit dem, was sie herausfinden muss, wie gehen Familien mit diesen Geheimnissen um, die dann aufgedeckt werden, oder in vielen Familien werden sie auch einfach nicht aufgedeckt. Da wird mit dem Schweigen weitergelebt. Diese Fragen interessieren mich, und natürlich immer die Frage, wie verhindern wir, dass das noch mal passiert.

Charlotte Lyne
Die Schriftstellerin Charlotte Lyne, die auch unter dem Pseudonym Charlotte Roth schreibt. © picture alliance/dpa/Foto: Uwe Zucchi
Scholl: Sie haben selbst da einen entschiedenen literarischen Kontrast eingewebt in Ihr Buch, vor den Kapiteln, da zitieren Sie jeweils Verse von Josef von Eichendorff oder von Paul Celan. Was wollten Sie mit diesem Gegensatzpaar zeigen, Frau Roth?
Roth: Also zum einen, natürlich steht da Eichendorff für die Geschichte der Vergangenheit, und das ist auch ein Liebeslied an Danzig. Ich habe ihn auch besonders deshalb ausgewählt, also nicht nur, weil es so schön ist, sondern weil es ein Romantiker ist, der sich nicht durch Deutschtümelei und Antisemitismus auszeichnet, sondern durch sehr zärtliche Lyrik, und er besingt hier ein Danzig, das noch heil ist. Es ist auch vorne in meinen Büchern, diese beiden Fotos. Das ist unglaublich schön in Danzig, für die dieses Gedicht steht, und die völlige Zerstörung, das, was dann eben sowohl menschlich als auch baulich in völligen Trümmern liegt. Danzig hat 90 Prozent der Bausubstanz verloren, von Menschenopfern ganz zu schweigen. Dafür steht dann Paul Celan, der seine Eltern verloren hat und wurzellos in einer zerstörten Welt hängt.
Scholl: "Gdansk hat mich jetzt am Hals, das lass ich mir nicht mehr nehmen", schreiben Sie auch im Nachwort und fordern uns alle auf, fahrt hin. Vielleicht verzeichnet das Gdansker Tourismusbüro demnächst einen dramatischen Anstieg der Besucherzahlen. Das würde Sie bestimmte freuen, nicht wahr?
Roth: Es würde mich sehr freuen, und bitte immer mir Bescheid sagen, ich bin selbst ganz, ganz viel in Zoppot und Gdansk, und ich freue mich natürlich auch immer, wenn ich mal Leser treffen kann, aber gemeint ist natürlich auch, sucht das Gdansk in eurer eigenen Familie. Also wenn es so etwas gibt, so eine verlorene Heimat, die man besuchen kann, wenn die verlorene Heimat nicht in Syrien liegt, dann unbedingt den alten Verwandten nehmen und sagen, wir fahren da zusammen hin, und wenn ich da langgehe, dann denke ich, ich hätte das unbedingt machen sollen, als meine Großmutter noch gelebt hat, mit ihr hier lang und sagen, guck mal, das hat sich wieder gefangen, das lebt weiter.
Scholl: Und vielleicht sieht man irgendwann Touristen mit Ihrem Roman, Frau Roth, in der Hand durch die Gdansker Altstadt stromern. Vielen Dank!
Roth: Das wäre mein Traum! Ganz herzlichen Dank!
Scholl: Danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Alles Gute Ihnen!
Roth: Danke schön, vielen, vielen Dank!
Scholl: Und "Wenn wir wieder leben", den neuen Roman von Charlotte Roth, den gibt es als Taschenbuch im Knaur-Verlag, 608 Seiten für rund 10,00 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema