Ein Jahr Entlastungstarifvertrag

Punktesystem gegen Personalnot an der Charité

05:50 Minuten
Eine Frau in berufsspezifischer Kleidung hält ein Transparent hoch, auf dem "Ich will doch nur pflegen" steht.
Mitarbeiter und Auszubildende in den Pflegeberufen demonstrieren am 12. Mai 2022 in Berlin, dem Weltpflegetag. Seit 1. Januar 2022 ist der Charité-Tarifvertrag in Kraft, der die Pflegekräfte entlasten soll. © IMAGO / Olaf Schuelke
Von Ann-Kathrin Jeske · 17.01.2023
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Für Pflegekräfte an der Charité gilt seit einem Jahr ein Tarifvertrag ganz eigener Art: Müssen Menschen in unterbesetzten Schichten arbeiten, bekommen sie freie Tage. Gewisse Erfolge gibt es, und auch Mitarbeiter sehen weitere positive Effekte.
„Entlastung in Pflegeberufen: Das ist bei uns Chep-Sache“. Mit diesem Slogan wirbt die Berliner Charité auf Plakaten und im Internet um neue Fachkräfte.
Das sogenannten Chep-System hat die Gewerkschaft Verdi in den Tarifverhandlungen für das Krankenhaus vor gut einem Jahr durchgesetzt. Cheps, das sind Punkte, die Fachkräfte für jede unterbesetzte Schicht, in der sie arbeiten müssen, sammeln. Wer fünf Punkte angesammelt hat, darf sich dafür einen ganzen Tag freinehmen.
Das soll den Druck auf das Management der Charité erhöhen, mehr Menschen für die Pflege einzustellen.

Druck aufs Management mit Cheps

„Wir sind wirklich super stolz, dass wir über verschiedene Maßnahmen ungefähr 500 Kolleginnen und Kollegen für die Charité begeistern konnten“, sagt Carla Eysel.
Ganz ungetrübt ist die Bilanz aber nicht, wie die Chefin für Personal und Pflege der Charité einräumt. „Wir haben im gleichen Zeitraum aber bedauerlicherweise auch ungefähr 200 Kolleginnen und Kollegen durch Kündigung verloren." Man wisse, woran das Haus noch arbeiten müsse. "Wir müssen diejenigen, die wir haben, sehr gut binden und schauen, dass wir die Fluktuation auch deutlich senken.“
Die Zielmarke: Insgesamt 700 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter will die Charité bis Ende 2024 einstellen. Die netto 300 mehr nach dem ersten Jahr seien also durchaus ein Erfolg, sagt Personalchefin Eysel.

70 Prozent der Schichten unterbesetzt

Allerdings kommt der Erfolg auf den Stationen offenbar nur schleppend an: „Eigentlich alle Dienste, die ich arbeite, sind unterbesetzte Schichten“, sagt Mareen Höwler, die heute nicht im Dienst ist und deshalb vor den Toren der Charité, im windigen, nasskalten Berliner Januar über ihre Erfahrungen berichtet.

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Seit über zehn Jahren arbeitet sie auf der Intensivstation in Berlin-Mitte. Ihre Schilderung deckt sich mit den Zahlen der Charité. Die Leitung räumt auf Nachfrage ein, dass im vergangenen Jahr etwa 70 Prozent der Schichten unterbesetzt waren.
Aus dem Stress hat Mareen Höwler längst Konsequenzen gezogen. So wie viele andere, arbeitet sie nur noch in Teilzeit: „Von daher: die wenige Zeit, die ich da bin, sammle ich trotzdem fleißig meine 'Cheps' und nehmen die auch in Freizeit, weil einfach die freie Zeit momentan das einzige ist, um diesen Stress auf Arbeit irgendwie gut zu verarbeiten und mal eine Pause zu machen.“

Freie Tage, Sabbatical, Altersteilzeit

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können die angesammelten Entlastungspunkte beispielsweise auch nutzen, um für ein Sabbatical oder auf eine Altersteilzeit zu sparen. Die überwiegende Mehrheit, etwa 90 Prozent des Personals, wählen aber freie Tage.
So erhöht jede unterbesetzte Schicht für die Charité den Druck, mehr einzustellen, weil zu der ohnehin schon knappen Personaldecke nun auch noch die zusätzlichen freien Tage kompensiert werden müssen.
Personalchefin Carla Eysel: „Das hat sich natürlich bemerkbar gemacht, darin, dass wir zum Beispiel extern Menschen mit hinzuholen mussten, also auf Leiharbeit zurückgegriffen haben. Das solle aber nicht dauerhaft die Lösung sein, sagt Eysel, denn jede Leiharbeitskraft kostet die Charité mehr als der Einsatz der Stammbelegschaft.

Wille zur Festanstellung ist da

Diese Ausgaben bekommen die Krankenhäuser nicht vollständig ersetzt, denn die Kassen übernehmen nur das im Tarifvertrag ausgehandelte Entgelt. Die Kosten für Leiharbeit liegen aber meist darüber. Mehr Fachkräfte festeinzustellen ist für die Charité deshalb auch finanziell der beste Weg.
Dana Lützkendorf, die den Tarifvertrag für Verdi mitausgehandelt hat, sieht durchaus, dass die Charité sich bemüht. Dass dort heute 300 Pflegekräfte mehr arbeiten als noch vor einem Jahr, bezweifelt die Gewerkschafterin allerdings. „Ich bin ein bisschen skeptisch, was die Zahlen angeht, weil das, was wir von den Kolleginnen hören, sich damit nicht deckt“, sagt sie.
Eine Frau mit hellroten Haaren und in schwarzer Kleidung spricht im Stehen an einem Mikrofon auf einem Stativ. Links neben ihr stehen weitere Personen, direkt neben ihr Melanie Guba, Verdi-Verhandlungsführerin, Susanne Feldkötter, stellvertrende ver.di-Landesbezirksleiterin Berlin-Brandenburg. Im Hintergrund Klinkerbauten auf dem Charité-Campus in Berlin-Mitte.
Intensivpflegerin Dana Lützkendorf, ganz rechts, war Mitglied der Verdi-Tarifkommission. Im Oktober 2021 sprach sie vor der Presse über die Einigung auf ein Eckpunktepapier in der Tarifauseinandersetzung.© picture alliance / dpa / Christoph Soeder
In den vergangenen Monaten musste die Charité viele Betten sperren, konnte also Patientinnen und Patienten aufgrund von Personalmangel nicht aufnehmen. „Da würde mich interessieren, wo die sind. Nichtsdestotrotz weiß ich natürlich, dass die Charité mehr Kolleginnen gewinnt als die Jahre zuvor. Da ist der Tarifvertrag schon ein Magnet.“
Die Gewerkschafterin fragt sich, wie viele der neu eingestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur in Teilzeit arbeiten. Bisher hat die Charité darauf noch keine Antwort gegeben.

Neues Selbstbewusstsein

Obwohl Intensivkrankenpflegerinnen wie Mareen Höwler momentan noch keine Entlastung spüren, hat sie der Kampf für den Tarifvertrag motiviert an der Charité zu bleiben und tut es noch immer: "Es hat sich gelohnt zu bleiben, weil man muss ja auch mal positiv dazu sagen: Das hat ja auch was mit den Kollegen gemacht."
Über die Jahre hinweg sei diese Belastung "immer nur so eine gefühlte Wahrheit" gewesen, sagt sie: "Jetzt ist es eine richtige Wahrheit, das merkt man an den Kollegen: die sind selbstbewusster geworden; sie gehen zur Stationsleitung, sagen: ‚Hey, wir sind unterbesetzt, sperrt mal Betten.", schildert Mareen Höwler. "Das hat schon auch einen positiven Effekt auf die Kollegen, weil sie merken, irgendwie sieht man es jetzt mal.“
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