Chaim Cohn: "Aus meinem Leben"

Aus Lübeck zum prägenden Juristen Israels

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Auf orange-weißem Hintergrund ist das Cover zu sehen. Darauf sitzt Chaim Cohn, hat die Hände ineinander gelegt und blickt in die Kamera. Das Bild ist schwarz-weiß.
In seiner Autobiografie lässt Chaim Cohn Privates meist außen vor. Er schreibt, wie er zu seinen Werten kommt. © Cover: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
Von Carsten Hueck · 19.09.2019
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Chaim Herman Cohn wurde in Lübeck in eine Rabbinerfamilie geboren, entwickelt sich aber zum Agnostiker. In Israel macht er sich um die Einführung eines modernen Rechts verdient und legt es auch aus. Nun erscheint sein uneitles Selbstporträt auf Deutsch.
Er stammt aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie und sollte selbst auch Rabbiner werden: Chaim Herman Cohn, 1911 in Lübeck geboren, erhielt bereits im Alter von drei Jahren Toraunterricht bei seinem Großvater, Rabbi Salomon Carlebach, der jüdische Religion und Lebensart mit deutscher Kultur verband.
Carlebach war Abgeordneter der Lübecker Bürgerschaft und empfahl in seinem "Ratgeber für das jüdische Haus" nicht nur theologische Werke zur Lektüre, sondern auch die von Goethe, Schiller, Kleist und Shakespeare.
Frommes jüdisches Milieu und geistige Weite prägten Chaim Cohn von früh an. Sein späteres Wirken zeichnet sich durch die fruchtbare Verbindung dieser beiden Einflüsse aus.

Was Bedeutung im Leben hatte

Cohns Autobiografie, in Israel bereits 2005, drei Jahre nach dem Tod des Autors, erschienen, vermittelt auf eindrucksvolle Weise die Entwicklung eines deutschen Juden zum israelischen Justizminister und Richter am obersten Gerichtshof des Landes.
Die Autobiografie "Aus meinem Leben" ist keine chronologische Abfolge von Ereignissen. Auch Privates, sofern es keine gesellschaftliche Bedeutung hat, bleibt unerwähnt. Das Buch macht vielmehr klar – anhand einzelner Stationen in knapp dreißig Kapiteln –, was der Autor als bedeutsam in seinem Leben anerkennt: den Glauben an die Werte des Judentums und das Wort; die Auseinandersetzung mit Religion, Philosophie, Sprache und Recht; das beständige Interesse an Bildung, die nie um ihrer selbst willen erworben wird, sondern immer aus dem Interesse, sie für das gesellschaftliche Zusammenleben wirksam zu machen.

Vom Gläubigen zum Agnostiker

Cohn geht nach dem Studium der Philosophie von München nach Jerusalem, um sich dort theologisch weiterzubilden. Beim zionistischen Großrabbiner Kook fühlt er sich im selbstständigen, unabhängigen Denken ermutigt, kehrt zurück nach Frankfurt, wo er Jura studiert und heiratet.
Die Machtübernahme der Nazis verhindert den Abschluss seiner Doktorarbeit, Cohn zieht erneut nach Jerusalem, wo er das Studium abschließt und als Anwalt tätig wird. Er arbeitet sich in das englische Recht ein, lernt Arabisch und wird zum Experten für Familienrecht.
Gegen Ende der 1930er Jahre beginnt er an der "göttlichen Gerechtigkeit" zu zweifeln, löst sich über die Beschäftigung mit Spinoza und Hume, mit der Anthropologie, Psychologie und Soziologie, von der Herrschaft der Tora und wird Agnostiker.

Engagement in Israel

Im neu gegründeten Staat Israel wirkt er als Rechtsberater der Regierung und macht sich verdient um die Einführung eines modernen Rechts, das sich aus den Quellen des rabbinischen Rechts speist. Religiöser Fanatismus, der Widerspruch von religiöser Gesetzgebung und säkularem Justizsystem, Gleichberechtigung der Frau im modernen Israel, Notwendigkeit einer Verfassung, Kampf für ein pluralistisches Judentum sind einige der vielen Felder, auf denen sich Chaim Cohn lebenslang engagiert.
Seine Autobiografie, die man auch als uneitles Selbstporträt lesen kann, weist zurück in eine kulturgeschichtliche Epoche, die in Deutschland mit der Nazizeit endete und deren Einfluss in Israel noch lange spürbar war. Chaim Cohn, das ist in jedem Wort spürbar, war eine herausragende Persönlichkeit. Er hat mit seinem moralisch-ethischen Anspruch die Welt, wo immer es ging, menschlicher gemacht.

Chaim Cohn: "Aus meinem Leben. Autobiografie"
Aus dem Hebräischen von Eva-Maria Thimme unter Mitarbeit von Jonathan Nieraad.
Berlin, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2019
421 Seiten, 28 Euro

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