Bedrohte Wissenschaftsfreiheit

Cancel Culture gibt es in den USA vor allem von rechts

Illustration: Eine Comicsprechblase mit einem kleinen Metallschloss in der Mitte.
Der Begriff Cancel Culture ist zu einem politischen Kampfbegriff geworden, meint der Historiker Max Paul Friedman. © Getty Images / iStock / Nadia Bormotova
Ein Standpunkt von Max Paul Friedman · 13.10.2022
In den USA genüge ein falsches Wort, schon breche ein linker Shitstorm los, behauptet der Journalist René Pfister. Die Cancel Culture komme eher von rechts und habe momentan vor allem die Wissenschaft als Ziel, sagt der Historiker Max Paul Friedman.
Viel Lärm gibt es in Deutschland über die sogenannte Cancel Culture in den Vereinigten Staaten. Zum Beispiel in René Pfisters neuem Bestseller „Ein falsches Wort“. Der Washington-Korrespondent des „Spiegel“ bedauert darin den Verlust einer liberalen Tradition der freien Meinungsäußerung in den USA und porträtiert einige bekannte Opfer, die aufgrund von Shitstorms ihren Job oder ihre soziale Position verloren haben.
Cancel Culture, eine Kombination aus Antirassismus, Feminismus und massivem Online-Shaming, könnte nach Europa überschwappen, so Pfister, und Otto-Normal-Bürger in die Arme der extremen Rechten treiben. So sieht er die amerikanische Demokratie nicht nur von rechts – durch Trump und dessen Anhänger – bedroht, sondern auch durch linke Cancel Culture. Stimmt das?

Aktionen organisierter Rechter

Als jemand, der einst von Neonazis im Internet bedroht wurde, teile ich die Sorge über Pöbeljustiz und mögliche Exzesse in dieser unregulierten öffentlichen Sphäre. Aber amerikanische Universitäten sind größtenteils immer noch in der Lage, umstrittene Redner auf den Campus zu bringen.
Wir haben relativ wenige Fälle, in denen eine Social-Media-Kampagne dazu geführt hat, dass eine Person tatsächlich ihr Einkommen oder ihren Zugang zu Medienplattformen verloren hat, und wenn Cancel-Versuche im Netz reale Konsequenzen haben, stehen dahinter oft Aktionen der organisierten Rechten.
Als Ohio die Abtreibung verbot, musste ein zehnjähriges Vergewaltigungsopfer für einen Schwangerschaftsabbruch in den Nachbarstaat Indiana reisen. Die Ärztin, die ihn durchführte, bekam eine Flut von Drohmails von Abtreibungsgegnern – und musste schließlich sogar um ihre Lizenz fürchten.

„Die Professoren sind der Feind“

Überhaupt gibt es in den USA einen wichtigen Unterschied zwischen linken und rechten Shitstorms. Von links sind es Studierende, die gegen beleidigende Äußerungen von Professoren oder Rednern protestieren. Es sind ethnische Minderheiten, die Rassismus denunzieren, oder Feministinnen, die sich dagegen wenden, dass mächtige Männer ungestraft Frauen belästigen oder andere Sexualdelikte begehen können.
Hinter den Shitstorms von rechts stehen oft konservative Großspender, die die Staatsmacht mobilisieren, um Zensurgesetze für Schulen und Hochschulen zu erlassen und Lehrer zu entlassen, die als zu wenig patriotisch gelten. Die Wissenschaft sieht sich derzeit dem Zorn der Rechten gegenüber – oder, wie der Republikanische Senatskandidat in Ohio J.D. Vance bemerkte: „Die Professoren sind der Feind.“

Morddrohungen gegen Wissenschaftler

Florida überwacht jetzt Lehrer und Professoren, um sicherzustellen, dass sie nicht über Rassismus unterrichten. Ähnliche Maßnahmen wurden auf lokaler oder staatlicher Ebene in 49 von 50 Bundesstaaten vorgeschlagen.
40 Prozent der linken oder schwarzen Professoren, die von „Campus Reform“, einem rechten Online-Magazin, angegriffen wurden, haben Morddrohungen erhalten. Auch ich bekam als Dekan eines Colleges einen Anruf von einem Mann aus North Carolina.: „Ich wünschte, ich könnte jeden von euch dummen Hurensöhnen erschießen, ihr linken Bastarde.“ Und welche Seite hat die Waffen?
Cancel Culture beschrieb ursprünglich das massive Online-Shaming, als #MeToo-Aktivisten oder Black Lives Matter eine neue Form des Widerstands entwickelten: Historisch entmachtete Gruppen, die über Generationen hinweg sozusagen gecancelt wurden und keine Gerechtigkeit bekamen, fanden durch kollektive Sprechakte in den neuen Medien eine stärkere Stimme.
Heute ist der Begriff Cancel Culture aber vor allem ein politischer Kampfbegriff, wie Politically Correct in den 90er-Jahren, mit dem Rechte und einige Liberale versuchen, die Linke mundtot zu machen.

Max Paul Friedman ist Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen an der American University in Washington. Sein Buch „Rethinking Anti-Americanism“ ("Antiamerikanismus umdenken") erschien bei Cambridge University Press.

Der Historiker Max Paul Friedman
© American University / Jeff Watts
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