Buttercreme in der Tupperdose

Vorgestellt von Arno Orzessek |
Florian Illies erinnert sich in "Ortsgespräch" an das Leben in der deutschen Provinz. Seine Heimatstadt Schlitz in Oberhessen wird dabei einerseits zum hinterwäldlerischen Dorf und gleichzeitig zum idealisierten Erinnerungsort. Kritisch-nostalgisch und satirisch beschreibt Illies das Leben mit dreistelligen Telefonnummern und die Geburtstagsfeiern bei seiner Tante.
In der Malerei wurde der spätimpressionistische Stil, in dem Bilder aus ungemischten Farbtupfern entstanden, Pointilismus genannt. Und pointilistisch geht auch Florian Illies in "Ortsgespräch" zu Werke. Das Buch über den Kosmos seiner hessischen Heimatstadt Schlitz hat 204 Seiten und besteht aus ungefähr genauso vielen Erinnerungs- und Erklärungsbröckchen.

Selten reicht eine Beobachtung oder ein Gedankengang über mehr als zwei Seiten, manchmal geht memoria schon nach zehn, zwölf Zeilen die Puste aus. Leicht zu lesen ist das allemal. Und Illies hat das stilistische Können, um, zum Beispiel, die Johannisbeeren der Vergangenheit ein weiteres Mal zu pflücken.

"Dieses kurze Schaudern, wenn ich eine Rispe roter Johannisbeeren in den Mund nahm, die Spitze mit den Fingern festhielt und sie dann mit einem kurzen Ruck durch die Schneidezähne zog, so dass die Beeren im Mund herumkollerten wie die Kugeln der Lottozahlen – und dann, beim Zubeißen, eine Hundertstelsekunde lang dieser schrecklich herrliche, saure Geschmack."

Schlitz - das ist eine real existierende 10.000-Einwohner-Stadt im Dreieck Alsfeld-Bad Hersfeld-Fulda, die im Jahr 812, zur Zeit Karls des Großen, erstmals urkundlich erwähnt wurde und bis heute durch ihr mittelalterliches Stadtbild auffällt.

Illies indessen schreibt von Schlitz über weite Strecken wie von einem kleinen, bäuerlich geprägten, weitgehend hinterwäldlerischen Dorf, in dem jeder jeden kennt, was bei 10.000 Einwohnern natürlich bare Fiktion ist. Und das heißt, Illies schreibt tatsächlich nur bedingt vom hessischen Schlitz, unbedingt aber von einem idealisierten Erinnerungsort. Er entwickelt einen, er entwickelt seinen Heimattopos und deutet zumindest an, dass darin etwas Riskantes liegt, etwas, das dem Zeitgeist bis vor kurzem noch verdächtig vorkam.

"Wenn ich die Großstadt hinter mir lasse und ein paar Stunden lang mit dem Zug zurückfahre aufs Land, dann freue ich mich, wenn der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe angesagt wird, und zwar nicht, weil dort der mobile Brezelverkäufer zusteigt. Sondern weil dann das Heimatgefühl in mir aufsteigt, wenn kurz hinter Kassel die Wiesen hügeliger werden und die Häuser fachwerkiger. Heimatgefühl war lange verboten, höchstens das Grundgesetz durfte man lieben, sein Auto oder seine Frau. Mein Heimatgefühl war aber schon immer etwas Besonderes […]."

"Ortsgespräch" wird mit zunehmender Seitenzahl immer besser, weil Florian Illies immer seltener schlechte Scherze macht und die hanebüchensten Grobheiten abnehmen. Denn wirklich, nach Tantengeburtstagen hat man ja schon mal "Buttercreme in Tupperdöschen" zugesteckt bekommen.

Aber dass man "mit dem Leeren einer dieser Buttercremedosen den gesamten Jahresbedarf an Zucker problemlos decken konnte", wie Illies schreibt, ist eine jener unwitzigen und verunglückten Übertreibungen, die nicht einmal in fahrlässigen Illustriertenkolumnen akzeptabel wären. Und die Behauptung, dass in Schlitz alle unter achtzehn "nachmittags in Bushaltestellen" und "alle über achtzehn abends in der Kneipe" saßen, verdeutlicht nichts außer Illies Vorliebe für flache Pointen. Der Preis ist hoch: Kaum beginnt man sich an der Plausibilität und Sensibilität einer Beobachtung zu freuen, haut ein granatenmäßiger Kalauer alles kurz und klein.

Von unreflektierter Nostalgie kann indessen keine Rede sein. Säuberlich unterscheidet Illies zwischen dem Wert, den die Erinnerung an die Heimat und die Wiederkehr in die Heimat für den erfolgreichen Großstädter von heute haben, und den tatsächlichen Gegebenheiten damals.

"Die frische Luft roch nach Dung […], und den Hahn hörte man nur, wenn er die verdreckten Hühner auf dem löwenzahnlosen Hof zur Liebe zwingen wollte. Es war ihm wohl selbst zu klischeehaft, morgens extra fürs Krähen aufzustehen. Niemand sehnte sich nach Ruhe und Naturprodukten, alle nach Aldi und Computerspielen. Statt über Abgeschiedenheit hätten wir uns weit mehr über ein Kino gefreut."

"Ortsgespräch" ist ein gattungsloses Büchlein über Heimat, Erinnerung und Provinz. Je dünner der Strom der privaten Illiesschen Erinnerungen wird, besonders breit ist er nie, desto stärker arbeitet sich der Autor an den bekannten Merkmalen des Provinziellen ab: Den dreistelligen Telefonnummern, den Autokennzeichen mit drei Buchstaben, dem Gang der Jahreszeiten, dem verspäteten Einbruch der Modernität und so weiter. Illies liebt satirische Substanzaussagen, sie mögen so falsch sein wie diese:

"Auf dem Land weiß […] jeder noch, für wen er etwas produziert."

Dafür sind die sachlichen Abschweifungen, die vom Zwang zum Geistesblitz und -witz entlastet sind, oft genau und interessant.

"Die Bezeichnungen für das Apfelkerngehäuse sind die sprachlichen Autokennzeichen der Bundesrepublik. In Thüringen und im Rhön-Grabfeld-Kreis sagt man also Griebsch, in Schwaben heißt es Butzen, ein Mainzer sagt Griebs, in Hannover heißt es Griebchen, im Ruhrpott Kitsche. Und in Schlitz heißt es Apfelkrotzen. Das ist kein schönes Wort, ich weiß, es klingt eigentlich so, als wollen man die Buchstaben ausspucken wie einen Apfelkern. Aber immerhin ist es hart und ehrlich."

"Romantik trifft Lebensfreude" heißt der Slogan, mit dem die Burgenstadt Schlitz Eigenwerbung macht, er ist nicht auf Ortsgespräch zu übertragen. Illies Erinnerungen sind nicht romantisch, sondern kritisch-nostalgisch und satirisch, sie zeugen nicht von überbordender Lebensfreude, sondern von den Nachwirkungen einer Befremdung. Florian Illies scheint noch verdutzt zu sein darüber, wohin ihn einst der Würfelwurf des Zufalls gestellt hatte. Was ihm bleibt, ist am ehesten gelinde Sympathie.

"Das gibt es vielleicht nur in der Provinz: diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – dass manche Ältere nicht wissen, ob sie gerade mit dem Vater oder dem Sohn gesprochen haben, dass man noch ein dunkelrotes Telefon von der Post hat, aber gleichzeitig eine Flatrate, dass man sich vom Navigationssystem die Wegstrecke anzeigen lässt und von den Kirchenglocken, wann man losfahren muss."

Florian Illies: Ortsgespräch
Karl Blessing Verlag, München 2006
Mehr zum Thema