Burkhard Spinnen: "Und alles ohne Liebe"

Wie emanzipiert waren Effi und Co?

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Cover von Burkhard Spinnens Sachbuch "Und alles ohne Liebe"
Burkhard Spinnens "Und alles ohne Liebe" rückt Fontanes Frauendarstellungen ins Hier und Jetzt. © Schöffling Verlag / Deutschlandradio
Von Ursula März · 27.12.2019
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Der 200. Geburtstag Theodor Fontanes wurde durch zahlreiche Neuerscheinungen gefeiert. Burkhard Spinnen fügt nun mit "Und alles ohne Liebe" eine überraschende Perspektive hinzu, indem er das Frauenbild des Dichters in den Blick nimmt.
Selten wurde ein literarisches Jubiläum so intensiv gefeiert wie der 200. Geburtstag Theodor Fontane am 30. Dezember. Von zahllosen Festivals, Lesungen und Ausstellungen in Berlin und Brandenburg abgesehen, ergoss sich über den deutschen Buchmarkt eine Fontane-Flut, die an Besuche in Restaurants erinnert, deren nicht enden wollende Speisekarte die Bestellung eher erschwert. Allein drei neue umfangreiche Biografien, dazu Bände mit den Briefen Fontanes und seiner Theaterkritiken, ein halbes Dutzend literaturwissenschaftlicher Studien, diverse Neuausgaben seiner bekanntesten Romane und vieles mehr. Den Leser stellt dieses Überangebot vor die Frage: Wo anfangen?
Als Einstieg in die Fontante-Welt bietet sich das schmalste der Bücher an: Der hundert Seiten umfassende Essay des Schriftstellers Burkhard Spinnen über die Frauenfiguren jener Gesellschaftsromane, die Theodor Fontane in der letzten Etappe seines beruflich bewegten Lebens verfasste.*

Erbarmungslose Moral und Emanzipation

"Irrungen, Wirrungen", "Unwiederbringlich" oder "Die Poggenpuhls" gehören zu diesem Spätwerk, aber auch Romane, die den Namen ihrer Heldinnen schon im Titel tragen: "Stine", "Frau Jenny Treibel", "Mathilde Möhring" und natürlich die berühmteste aller Fontane'schen Frauen: "Effi Briest".
Jeder kennt ihre Tragödie. Als Teenager an den pedantischen Innstetten verheiratet, geht sie eine flüchtige Affäre ein, die ihr Gatte nach Jahren entdeckt, was zum Tod des Liebhabers beim Duell und zu Effis Vertreibung aus der Gesellschaft, letztlich zu ihrem frühen Tod führt. Effi als Opfer der erbarmungslosen Moral ihrer Zeit, das ist die gewohnte Lesart.
Burkhard Spinnen stellt ihr eine andere, heutigere gegenüber. Er sieht in Effi eine Frau, die ein ewiges Kind bleiben, für ihre Person keine Verantwortung übernehmen, keine Identität gewinnen will. Anders als Mathilde Möhring im gleichnamigen Roman. Ihr spielen die Männer und die Gesellschaft ebenfalls übel mit. Aber sie zieht aus ihrer Misere einen anderen Schluss. Sie handelt, macht eine Lehrerinnenausbildung und verdient eigenes Geld.

Ein selbstbestimmtes Leben wagen

Auch die kleinbürgerliche Lene Nimptsch, deren große Liebe zu einem adligen Offizier in "Irrungen, Wirrungen" an den Standesregeln scheitert, nimmt ihr Leben pragmatisch in die Hand. Sie alle und ein weiteres Dutzend Heldinnen aus dem Fontane'schen Romankosmos arrangiert Spinnen in einer Art Familienaufstellung. Die Position, die sie darin einnehmen, ergibt sich aus dem Grad ihrer Emanzipiertheit. Anders gesagt: Aus der Frage, wie weit sie auf dem Weg in unsere Gegenwart gekommen sind. Mit welchen Schritten sie sich dem Ziel eines selbstbestimmten Lebens nähern. Effi steht ziemlich am Anfang, Lene ist schon weiter und Mathilde auf dem Sprung ins mittlere 20. Jahrhundert.
Burkhard Spinnens Ansatz ist nicht nur überraschend, sondern auch produktiv. Mit diesem vorzüglich geschriebenen Essay gelingt es ihm, Fontanes Romane vom historischen Staub zu befreien und ins Licht der Jetztzeit zu rücken. Sein Buch ist ein Musterbeispiel philologischer Lebendigkeit.

Burkhard Spinnen: "Und alles ohne Liebe. Theodor Fontanes zeitlose Heldinnen"
Schöffling Verlag, Frankfurt 2019
109 Seiten, 12 Euro


*Wir haben in unserem Beitrag eine missverständliche Aussage gelöscht.
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