Bürgergeld

Nicht die Höhe ist der Skandal, sondern die Debatte

04:29 Minuten
In einem Jobsender werden Wartenummern auf einem Bildschirm angezeigt. Im Vordergrund ist ein Mensch.
Nicht bloß eine Nummer, sondern ein Schicksal: Das Stigma der Sozialschmarotzer verschwand nicht mit der Einführung des Bürgergeldes. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Ein Kommentar von Claudia Cornelsen · 16.11.2023
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Das Bürgergeld schaffe keine Arbeitsanreize. Oft wird von dann Faulpelzen oder dergleichen gesprochen. Die Journalistin Claudia Cornelsen findet diese Debatte unsäglich. Denn es gibt gute Gründe für die staatliche Unterstützung.
„Wir suchen Personal!“ Das steht fast an jeder Tür, egal ob Gemüseladen oder Gaststätte. Deutschland hat Fachkräftemangel und die Politik diskutiert übers Bürgergeld. Das wurde erst Anfang dieses Jahres eingeführt und löste das bisherige Hartz-IV-System ab.
Gestritten wird über die Höhe des Bürgergeldes. Es sei zu hoch und schaffe keine „Arbeitsanreize“. Heißt es. Denn wieso überhaupt benötigen 5,5 Millionen Bürgergeld? Die könnten doch arbeiten gehen, statt auf Kosten der Allgemeinheit herumzulungern.
Zack ist es wieder da, das Stigma der Faulpelze und Sozialschmarotzer, das auch mit dem neuen Namen nicht aus den Köpfen verschwindet. Doch wer sind diese 5,5 Millionen Menschen eigentlich? Für die Antwort gibt es eine Eselsbrücke: Öffnen Sie mal Ihre Hand. Jeder Finger steht für eine Teilgruppe von Menschen in Bürgergeld.

Bürgergeld für Kinder und Jugendliche

Den kleinen Finger können Sie einklappen. Das sind eine Viertelmillion Kinder und Jugendliche. Sie gehen in die Schule oder machen eine Ausbildung. Sie bekommen Bürgergeld, weil ihre Familien in Armut leben.
Auch den Ringfinger können Sie einklappen. Das sind anderthalb Millionen Menschen, die gar nicht erwerbsfähig sind. Sie sind chronisch krank oder haben eine schwere Behinderung. Bleiben drei Finger.
Der Mittelfinger kann weg. Das sind rund eine Million Menschen, die sehr wohl arbeiten. Sie sind sogenannte Aufstocker. Sie arbeiten. Sie verdienen nur zu wenig, um davon leben zu können. Deshalb bekommen sie „aufstockendes“ Bürgergeld. Oder sie qualifizieren sich in einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder einem Integrationskurs für den Arbeitsmarkt. Bleiben zwei Finger.

Bürgergeld für alte und kranke Menschen

Den Zeigefinger können Sie auch einklappen. Das sind 0,7 Millionen Menschen, die unbezahlte Fürsorgearbeit an Alten, Kranken oder Kindern leisten, meistens Frauen. Sie finden keine Arbeit, weil sich die Arbeitszeiten nicht mit der Kinderbetreuung oder der Pflegearbeit vereinbaren lassen.
Knapp vier der 5,5 Millionen Menschen in Bürgergeld haben wir jetzt schon ausgeklammert. Bleibt der Daumen: Eine Restmenge von 1,6 Millionen Menschen, die tatsächlich erwerbsfähig und arbeitslos sind. 1,6 von 84 Millionen Deutschen. Das sind 1,9 Prozent. Ist das skandalös?

Bürgergeld für Beschäftigte mit Knochenjobs

In der Regel stammen sie aus dem Niedriglohnsektor. Sieben Millionen Beschäftigte machen Knochenjobs. Harte körperliche Arbeit. Auf dem Feld, auf dem Schlachthof, auf dem Bau. Jobs, aus denen man – wegen Wetter, wegen Saison – schnell wieder rausfliegt. Ohne Rücklagen, ohne Ansprüche auf Arbeitslosengeld landet man sofort im Bürgergeld.
Wäre es nicht okay, wenn diese Menschen ab und an einfach nur faul wären? Aber keine Sorge. Sie sind es nicht! Es gibt eine Art Niedriglohn-Bürgergeld-Drehtür-Effekt. Die meisten finden nach kurzer Zeit wieder einen Job, schlecht bezahlt und befristet! Bis zur nächsten Drehtürrunde!
Wenn Sie Ihre fünf Finger also nach und nach eingeklappt haben, dann schauen Sie jetzt auf eine Faust. Vielleicht guckt noch ein Stück vom Daumen heraus. Oder vom Mittelfinger. Entscheiden Sie selbst.

Niveau der Debatte schockiert

Bitte zeigen Sie diese Hand all denen, die behaupten, unser Sozialstaat sei ein Paradies für Drückeberger. Nein, die Menschen in Bürgergeld sind 5,5 Millionen Menschen – mit Vermittlungshemmnissen, Kinder, Jugendliche, Alleinerziehende, Aufstocker und Niedriglöhner.
Auch Drückeberger sind darunter. Jede Wette. Aber anteilig sicher nicht mehr als der Anteil an Politikern, die sich vor einer sachlichen Sozialpolitik drücken. Sie verbreiten lieber gehässige Parolen als sich in die – zugegeben – komplexe Materie einzuarbeiten.
Nicht die Höhe des Bürgergelds, sondern die Debatte übers Bürgergeld ist der Skandal. Das schockierend niedrige Niveau ist ein Armutszeugnis für unsere Demokratie.

Claudia Cornelsen ist gelernte Journalistin und arbeitet als Kommunikationsberaterin und Ghostwriterin in Berlin. Auch unter ihrem eigenen Namen veröffentlichte sie mehrere Bücher, zuletzt „Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen" (mit Helena Steinhaus, Verlag S. Fischer 2023)

Portrait von Claudia Cornelsen
© Oliver Betke
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