Bündnissolidarität à la carte?
Wer oder was bedroht die Sicherheit der Türkei? Darauf sollten die Abgeordneten des Bundestags eine plausible Antwort wissen, ehe sie die deutschen Soldaten und ihre Patriot-Raketen Richtung Anatolien in Marsch setzen, meint der Sicherheitsexperte und Friedensforscher Reinhard Mutz.
Zweimal schon hat sich die Türkei entlang ihrer Südgrenze ein massives Bollwerk zur Luftabwehr errichten lassen. Beide Male stammten die Waffensysteme und die Bedienungsmannschaften aus verbündeten Ländern. Ihre Entsendung waren Krisenreaktionseinsätze der NATO. Beide Male, 1991 und 2003, folgte auf die Stationierung der Flugzeuge und Raketen gleich eine Offensive mit Bodentruppen. Damals hieß der Feind Saddam Hussein.
Und heute? Wer oder was bedroht die Sicherheit der Türkei? Darauf sollten die Abgeordneten des Bundestags eine plausible Antwort wissen, ehe sie die deutschen Soldaten und ihre Patriot-Raketen Richtung Anatolien in Marsch setzen. Mit dem pauschalen Hinweis auf Syrien, den maroden Nachbarn im Süden der Türkei, ist es jedenfalls nicht getan.
Der Staat Baschar al Assads ist nach fast zwei Jahren des Bürgerkriegs ausgezehrt und wirtschaftlich stranguliert durch Monat für Monat verschärfte Sanktionserlasse der westlichen und vieler arabischer Regierungen. Er kämpft um das eigene Überleben. Was könnte ihn, dem das Wasser bis zum Hals steht, verleiten, neben der inneren noch eine äußere Front zu eröffnen? Und warum sollte er sich ausgerechnet mit der stärksten Militärmacht der ganzen Region anlegen?
Die türkische Seite macht geltend, sie könne ihre Grenzsicherheit nicht länger alleine gewährleisten. Zur Illustration verweist sie auf stets ein und denselben Vorfall. Er spielte Anfang Oktober, dicht an der türkischen Grenze: Syrische Regierungstruppen und Aufständische lieferten sich erbitterte Gefechte; eine Mörsergranate flog über den Sperrzaun und schlug in ein Gebäude unmittelbar hinter der Grenze ein; fünf Menschen kamen ums Leben, eine Mutter und vier ihrer Kinder.
Unaufgeklärt blieb, ob es ein gezielter Schuss oder ein Querschläger gewesen war, der die Menschenleben kostete, und ebenso, ob ihn Regierungssoldaten oder oppositionelle Kämpfer abgefeuert haben. Dessen ungeachtet erklärte noch am selben Tag in Brüssel der NATO-Rat den Vorfall zum aggressiven Akt gegen die Südostgrenze der Allianz. In Ankara ließ sich Ministerpräsident Tayip Erdogan vom türkischen Parlament für die Dauer eines Jahres ermächtigen, jederzeit militärisch gegen Syrien vorzugehen.
Entspringt also der Hilferuf Ankaras der Sorge, der syrische Bürgerkrieg könne auf türkisches Territorium übergreifen? Dann wäre er falsch adressiert. Denn Patriot-Raketen können zwar Flugzeuge, Hubschrauber oder Raketen bekämpfen. Gegen Geschosse aus Landfahrzeugen richten sie aber nichts aus. An Waffen für den Bodenkampf herrscht überdies in den türkischen Streitkräften selbst kein Mangel.
Über das zentrale Motiv des Bittbriefs vom Bosporus kann nur rätseln, wer die Fülle an Einlassungen offizieller wie offiziöser Natur übersehen hat: Beendet werden soll das Ringen um die Herrschaft in Damaskus und zwar nach libyschem Vorbild, doch diesmal notgedrungen ohne UNO-Mandat. Dazu braucht man die Rückendeckung der mächtigen Allianz, und die Patriots sind ein erstes sichtbares Zeichen.
Natürlich schuldet die Bundesrepublik ihren Alliierten Bündnissolidarität. Sie schuldet ihnen vertraglich Beistand, um einen militärischen Angriff abzuwehren. Sie schuldet ihnen aber keine Beihilfe zur Verfolgung beliebiger außenpolitischer Ziele.
Dass nationale Interessen oder die Interessen Verbündeter auch mit Waffenmacht durchgesetzt werden dürfen, ist eine Auffassung, deren Anhängerschaft wächst. Im NATO-Vertrag steht davon nichts, in der Charta der Vereinten Nationen schon gar nicht. Bei der Behandlung internationaler Streitfragen legen beide Dokumente die Priorität eindeutig auf die politische vor der militärischen Konfliktlösung. Sie binden Gewalt an strikte Bedingungen. Diesen Grundsatz hat sich die deutsche Politik lange zur Richtschnur genommen. Sie sollte daran festhalten.
Reinhard Mutz, Friedensforscher: Jahrgang 1938, studierte nach dem Militärdienst Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte, promovierte über Probleme der Analyse, Kritik und Kontrolle militärischer Macht und habilitierte sich über Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa.
1966 bis 1984 arbeitete er am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin, zuletzt als Assistenzprofessor. Von 1984 bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik. Seine Arbeitsgebiete sind Friedensforschung, Rüstungskontrolle, internationale Sicherheitspolitik.
Links bei dradio.de:
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Kommentar: Es geht um mehr als um Raketenabwehrsysteme
Und heute? Wer oder was bedroht die Sicherheit der Türkei? Darauf sollten die Abgeordneten des Bundestags eine plausible Antwort wissen, ehe sie die deutschen Soldaten und ihre Patriot-Raketen Richtung Anatolien in Marsch setzen. Mit dem pauschalen Hinweis auf Syrien, den maroden Nachbarn im Süden der Türkei, ist es jedenfalls nicht getan.
Der Staat Baschar al Assads ist nach fast zwei Jahren des Bürgerkriegs ausgezehrt und wirtschaftlich stranguliert durch Monat für Monat verschärfte Sanktionserlasse der westlichen und vieler arabischer Regierungen. Er kämpft um das eigene Überleben. Was könnte ihn, dem das Wasser bis zum Hals steht, verleiten, neben der inneren noch eine äußere Front zu eröffnen? Und warum sollte er sich ausgerechnet mit der stärksten Militärmacht der ganzen Region anlegen?
Die türkische Seite macht geltend, sie könne ihre Grenzsicherheit nicht länger alleine gewährleisten. Zur Illustration verweist sie auf stets ein und denselben Vorfall. Er spielte Anfang Oktober, dicht an der türkischen Grenze: Syrische Regierungstruppen und Aufständische lieferten sich erbitterte Gefechte; eine Mörsergranate flog über den Sperrzaun und schlug in ein Gebäude unmittelbar hinter der Grenze ein; fünf Menschen kamen ums Leben, eine Mutter und vier ihrer Kinder.
Unaufgeklärt blieb, ob es ein gezielter Schuss oder ein Querschläger gewesen war, der die Menschenleben kostete, und ebenso, ob ihn Regierungssoldaten oder oppositionelle Kämpfer abgefeuert haben. Dessen ungeachtet erklärte noch am selben Tag in Brüssel der NATO-Rat den Vorfall zum aggressiven Akt gegen die Südostgrenze der Allianz. In Ankara ließ sich Ministerpräsident Tayip Erdogan vom türkischen Parlament für die Dauer eines Jahres ermächtigen, jederzeit militärisch gegen Syrien vorzugehen.
Entspringt also der Hilferuf Ankaras der Sorge, der syrische Bürgerkrieg könne auf türkisches Territorium übergreifen? Dann wäre er falsch adressiert. Denn Patriot-Raketen können zwar Flugzeuge, Hubschrauber oder Raketen bekämpfen. Gegen Geschosse aus Landfahrzeugen richten sie aber nichts aus. An Waffen für den Bodenkampf herrscht überdies in den türkischen Streitkräften selbst kein Mangel.
Über das zentrale Motiv des Bittbriefs vom Bosporus kann nur rätseln, wer die Fülle an Einlassungen offizieller wie offiziöser Natur übersehen hat: Beendet werden soll das Ringen um die Herrschaft in Damaskus und zwar nach libyschem Vorbild, doch diesmal notgedrungen ohne UNO-Mandat. Dazu braucht man die Rückendeckung der mächtigen Allianz, und die Patriots sind ein erstes sichtbares Zeichen.
Natürlich schuldet die Bundesrepublik ihren Alliierten Bündnissolidarität. Sie schuldet ihnen vertraglich Beistand, um einen militärischen Angriff abzuwehren. Sie schuldet ihnen aber keine Beihilfe zur Verfolgung beliebiger außenpolitischer Ziele.
Dass nationale Interessen oder die Interessen Verbündeter auch mit Waffenmacht durchgesetzt werden dürfen, ist eine Auffassung, deren Anhängerschaft wächst. Im NATO-Vertrag steht davon nichts, in der Charta der Vereinten Nationen schon gar nicht. Bei der Behandlung internationaler Streitfragen legen beide Dokumente die Priorität eindeutig auf die politische vor der militärischen Konfliktlösung. Sie binden Gewalt an strikte Bedingungen. Diesen Grundsatz hat sich die deutsche Politik lange zur Richtschnur genommen. Sie sollte daran festhalten.
Reinhard Mutz, Friedensforscher: Jahrgang 1938, studierte nach dem Militärdienst Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte, promovierte über Probleme der Analyse, Kritik und Kontrolle militärischer Macht und habilitierte sich über Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa.
1966 bis 1984 arbeitete er am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin, zuletzt als Assistenzprofessor. Von 1984 bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik. Seine Arbeitsgebiete sind Friedensforschung, Rüstungskontrolle, internationale Sicherheitspolitik.
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Der Sicherheitsexperte und Friedensforscher Reinhard Mutz© Jochen Rasch