"Bye Bye Lolita"

Ein Buch, das seine Leser angreift

Cover des Romans "Bye Bye Lolita" von Lea Ruckpaul mit abstrakten Motiven.
© Verlag Voland & Quist

Lea Ruckpaul

Bye Bye LolitaVerlag Voland & Quist, 2024

312 Seiten

24,00 Euro

Von Undine Fuchs |
Vladimir Nabokovs "Lolita" ist zum Mythos geworden. Die Protagonistin in Lea Ruckpauls Debütroman „Bye Bye Lolita“ erzählt ihre Version dieser Geschichte von sexuellem Missbrauch – und klagt an.
Schon früh hat man Lea Ruckpaul gesagt, sie solle sich „nicht wie eine Lolita“ benehmen, erzählt die Schauspielerin in einem Interview. Seit der amerikanisch-russische Schriftsteller Vladimir Nabokov „Lolita“ 1955 zur titelgebenden Protagonistin seines Erfolgsromans machte, avancierte der Name zur Metapher. In Form eines Tagebuchs ließ der Autor seinen pädophilen Erzähler Humbert Humbert von dessen Beziehung zu der zwölfjährigen Dolores Haze – von ihm „Lolita“ genannt – berichten.

Mythos Lolita

Keine Lolita zu sein bedeutet seitdem, als Mädchen mit einem Rock nicht breitbeinig zu sitzen, nicht mit Männern zu flirten. Als „Lolitakomplex“ wurde wiederum lange Zeit das abnormale sexuelle Verlangen erwachsener Männer nach jungen Mädchen bezeichnet. Kurzum: „Lolita“ ist zum Mythos geworden. Doch schon der Titel von Ruckpauls Debütroman „Bye bye Lolita“ verrät, dass das Bekannte hier nicht einfach neu erzählt wird:

„Ich bin nicht tot. Ich bin durch alle Zeiten gereist. Ich bin alle Frauen geworden und doch keine andere. Ich will keine Zuwendung und ich will keine Wiedergutmachung. Ich will Autonomie.“

Szenenfoto aus dem Film "Lolita" von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1962 nach dem Roman von Vladimir Nabokov mit James Mason und Sue Lyon in der Titelrolle.
Gleich zwei Mal wurde der Stoff "Lolita" verfilmt: einmal von Stanley Kubrick im Jahr 1962 und einmal von Adrian Lyne im Jahr 1997.© picture alliance / Collection Christophel
Wyährend Nabokovs Roman mit Lolitas Ableben endet, hat diese ihren Tod bei Ruckpaul nur vorgetäuscht, um ihrem Peiniger endgültig zu entkommen. Einundzwanzig Jahre sind vergangen seit den Geschehnissen, die Humbert Humbert in seinem Tagebuch festhielt. Aus Lolita ist Dolores Haze geworden, eine erwachsene Frau, eine Überlebende des sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit. Als sie vor Humbert floh, nahm sie dessen Tagebuch an sich. Und in dieses schreibt sie nun – von hinten nach vorne – ihre Version der Geschichte. Damit imaginiert der Text eine doppelte Bewegung, nähert er sich doch einerseits Humberts Aufzeichnungen immer weiter an und lässt sie gleichzeitig gegen diese anschreiben. Ein Anschreiben, das häufig eher einem Anschreien gleichkommt.
„Ich bin nicht das mit den Beinen baumelnde Mädchen, nicht eure geile heimliche Bumsphantasie! Sorgt dafür, dass eure Erregung unentdeckt bleibt, während ihr lest, was ich schreibe. Ich bin nicht die Schlampe, die jeder ficken kann, weil ihre eindringenden Schwänze gleichgültig geworden sind. Ich bin nicht das missbrauchte Kind. Nicht das Kind, das eine Liebesbeziehung mit einem Erwachsenen hatte, […] ich bin nicht das arme Opfer eines sexuellen Missbrauchs.“
Der Text erweist sich als dröhnende Anklage, als Kampf darum, wem diese Geschichte gehört. Wo Nabokovs Humbert in seinem Tagebuch wegschaute, poetisch verklärte, von „Nymphettentum“ schwadronierte, mutet Ruckpauls Dolores zu, rückt das Körperliche in den Vordergrund, beschreibt explizit die immer wieder stattfindenden Vergewaltigungen eines Kindes. Der Autor Dietmar Dath beschreibt in seinem Romanessay „Die Salzweißen Augen“ Drastik als „Genauigkeit, Deutlichkeit, Transparenz des Empfindens“. Oder anders: Drastik zeigt und formuliert, was man dem gesellschaftlichen Anstandsempfinden nach verschweigen würde. Genau dieser drastischen Ästhetik verschreibt sich auch Ruckpaul. Dolores Erzählstimme klingt vulgär, und macht genau damit sichtbar, was bei Nabokov unsichtbar bleibt. Das ist beim Lesen manchmal kaum erträglich. Aber es ist Rollenprosa auf sehr hohem Niveau.

Zwischen Lolita und Dolores

Einen Klassiker wie „Lolita“ von Nabokov zur Vorlage zu nehmen, ist riskant. Ruckpaul begegnet diesem Risiko, indem sie Dolores als Erwachsene und in der Rückschau berichten lässt. So schafft sie eine figurenpsychologisch anspruchsvolle Erzählerin: Denn hinter den Beschimpfungen, dem Aufbäumen gegen das Opfersein und dem Kampf um Autonomie wird immer wieder auch das traumatisierte Kind sichtbar. Mehr als Nabokov widmet sich die Autorin der Vorgeschichte der Ereignisse um Humbert Humbert. So gewinnt in ihrer Erzählung ein Mädchen Kontur, dessen Mutter sie systematisch vernachlässigt, die von Klein auf Übergriffe erfährt, die nie gelernt hat, Grenzen zu setzen. Ein Mädchen, in dessen Hilflosigkeit die einzige Macht der eigene Körper ist.
„Ich erinnere mich sehr genau, wie ich staunte, dass ein bloßes Berühren der Lippen so viel bei ihm auslösen konnte: beschleunigter Atem, sich winden, schwitzen, knurren. Das ist ja leicht. Im Grunde wird es ganz leicht, sagte ich mir. Es war, als hätte jemand eine andere Beleuchtung angeknipst. Alle Lichter waren auf mich gerichtet. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die volle Aufmerksamkeit eines Menschen.“

Trauma und Selbstermächtigung

Dabei liefert „Bye bye Lolita“ keine einfachen Antworten: Wenn die Erzählerin beschreibt, wie sie es als erwachsene Frau mag, beim Sex machtlos zu sein und gedemütigt zu werden, stellt der Text die schmale Linie zwischen Trauma und Selbstermächtigung dar. Fest steht: Ruckpauls Dolores Haze hat die Missbrauchserfahrung inkorporiert, sie durchdringt auch ihre erwachsenen Beziehungen.
„Ich bin eine Illusionistin. Ich bin immer die Richtige für die, die nach der Richtigen suchen. Für alle anderen bin ich eine andere.“
„Es ist sicher einfacher, Humbert Humberts geheimes Tagebuch zu lesen, aber ich kann euch meine Erinnerungen nicht ersparen, so wie auch mir nichts erspart wurde“, heißt es zu Beginn der Aufzeichnung. Das stimmt. „Bye Bye Lolita“ macht in seiner Anklage auch vor seinen Lesern nicht halt, wenn Dolores beispielsweise reflektiert, dass Humberts Ästhetisierung der Vergewaltigung bei der Lektüre eine potenziell erregende Wirkung hat. Ein Text, der nicht berührt, sondern seine Leser angreift. 
Sexueller Missbrauch als Thema in der Literatur