Sexueller Missbrauch in der Literatur

Schreiben gegen das Schweigen

29:42 Minuten
Die drei Köpfe der Schriftsteller sind nebeneinander montiert, alle tragen eine Brille.
Die Schriftsteller Christian Kracht, Josef Haslinger und Bodo Kirchhoff (v.l.) setzen sich mit ihren Missbrauchserfahrungen auseinander. © picture alliance / Steffen Schmidt / Robert Newald / Anke Waelischmiller/Sven Simon
Von Ralph Gerstenberg · 18.09.2020
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Josef Haslinger, Christian Kracht und Bodo Kirchhoff - drei prominente Schriftsteller, die - zum Teil in ihren Arbeiten - thematisieren, dass sie sexuell missbraucht wurden. In "Dämmer und Aufruhr" erzählt Kirchhoff die Ereignisse eindrücklich.
Sexueller Missbrauch - dieser Begriff wurde nach den zuletzt bekannt gewordenen schrecklichen Vorfällen als sexualisierte Gewalt gegen Kinder gesetzlich neu gefasst. Das Thema sorgt seit Jahren für Schlagzeilen und erschüttert die Öffentlichkeit. Nicht erst seit der #MeToo-Bewegung und der Offenbarung Christian Krachts, er sei als Jugendlicher in einem kanadischen Eliteinternat missbraucht worden, ist es auch in der Literatur angekommen. So schrieb Josef Haslinger bereits 1983 in der autobiografisch gefärbten Erzählung "Die plötzlichen Geschenke des Himmels" darüber, wie die Verletzungen und Verstörungen eines sexuell missbrauchten Kindes im Erwachsenen weiterwirken.
Auch Bodo Kirchhoff hat sich bereits zu eigenen Missbrauchserfahrungen geäußert. In seinem Roman "Dämmer und Aufruhr" von 2018 erzählt er jedoch so eindrücklich wie nie zuvor über die Ambivalenz dieser prägenden Erlebnisse in seiner Jugend.

"Mir ging es darum, diese Geschichte so zu erzählen, dass die Beziehung, die dahinter sich verbirgt, miterzählt wird. Das war ja eine Verführung, gleichzeitig war es natürlich auch eine Zumutung", so Kirchhoff.

Kein Produkt der Fantasie

Auf unterschiedliche Weise haben sich die drei Schriftsteller mit eigenen Missbrauchserfahrungen auseinandergesetzt. Christian Kracht hielt am 15. Mai 2018 die erste von drei Poetikvorlesungen an der Frankfurter Goethe-Universität.
Dabei sprach er auch über eine Person, die ihn, ohne dass er sich dessen lange Zeit bewusst war, geprägt hat - über den kanadischen Pastor Keith Gleed, Reverend an der Lakefield College School, einem Eliteinternat in Ontario, das Kracht Ende der siebziger Jahre besuchte. Dort hat der Geistliche mindestens dreißig Schüler sexuell missbraucht, unter ihnen Christian Kracht, der von seinen Mitschülern "Heidi" genannt wurde.
Erst vierzig Jahre später, als Kracht von den Missbrauchsfällen aus den Medien erfuhr, wurde Kracht bewusst, dass jener Vorfall in der Holzhütte des Anglikanerpaters kein Produkt seiner sprühenden Fantasie war, für das es seine Eltern, denen er davon erzählte, - und schließlich auch er selbst - damals hielten. Was sich dort zugetragen hat, erfuhr nun die schockierte Öffentlichkeit - zum Beispiel aus der Süddeutschen Zeitung:
"Dann peitschte er den zwölfjährigen Jungen aus, sieben, acht Schläge. Als er fertig war, wies er den Knaben an, sich nicht umzudrehen. Christian Kracht verharrte in der Position, die ihm vorgegeben worden war, und hörte nur das Schnaufen des Pastors, der allem Anschein nach hinter ihm masturbierte."
Der Literaturwissenschaftler Kevin Kempke meint dazu, dass der Satz "Ich hörte, wie er hinter mir seine Hose öffnete" von verschiedenen Medien "so ein bisschen sensationsheischend als Headline genommen wurde.
Im sprachlichen Duktus war diese Missbrauchserzählung erstaunlicherweise eher in dem üblichen Kracht-Ton gehalten, den man aus seinem letzten Roman "Die Toten" kennt, also etwas manieriert, könnte man fast sagen, aber nicht besonders detailreich. Es ging dann vor allem um die Folgen, die der Missbrauch für ihn als Autor hatte."
Christian Krachts Offenbarung fiel in eine Zeit, in der fast täglich Fälle von sexuellen Übergriffen in den Schlagzeilen zu finden waren.
2018 war die #MeToo-Debatte in vollem Gange - Kracht hatte im Zuge der Weinstein-Affäre von den Missbrauchsfällen an seinem ehemaligen Internat erfahren. Opferberichte und öffentlich erhobene Vorwürfe standen ganz oben auf der medialen Aufmerksamkeitsskala.

Die Hilflosigkeit spürbar machen

Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die Opferrolle, in die er nach einer literarischen Äußerung zum Thema immer wieder gedrängt wurde:
"Ständig darauf angesprochen zu werden und damit hausieren zu gehen - und es herrscht dann auch immer eine seltsame Betroffenheit bei allen rundherum, wenn man gebeten wird, darüber zu erzählen -, auch das ist natürlich eine Rolle, die mir nicht mehr behagt."
Anfang der achtziger Jahre veröffentliche Josef Haslinger die Erzählung "Die plötzlichen Geschenke des Himmels", in der er, fünfzehn Jahre danach, seine Missbrauchserfahrungen in einem katholischen Klosterinternat verarbeitet hatte: "Das Merkwürdige ist, dass ich diese Erfahrung nicht losgeworden bin. Ich hab für mich im Inneren einen alten Groll gegen die Kirche gehegt und der hat sehr viel mit diesen Erfahrungen zu tun gehabt.
Und ich war im Urlaub auf Mallorca. Und plötzlich war mir dieses Thema, obwohl ich so weit weg war, sehr nahe. Und ich hatte richtig das Bedürfnis, jetzt einmal loszulegen. Und der erste Text, den ich da geschrieben habe, diese Missbrauchsgeschichte, die war auch getragen von einem Ton, der einfach diese Gebrochenheit und diese Hilflosigkeit eines Jungen, der dem ausgeliefert ist, spürbar machen sollte."

"Darüber schreiben - ein Akt der Befreiung"

Auf wenigen Seiten lässt Josef Haslinger seinen Ich-Erzähler in knappen, realistischen Szenen von den sexuellen Übergriffen in seiner Vergangenheit berichten. Die Gefühlsverwirrung des Heranwachsenden wird dabei ebenso deutlich, wie der emotionale Nachhall der Missbrauchserfahrung in der Psyche des inzwischen erwachsenen Erzählers. Das, worüber Haslinger bislang nicht reden konnte, hat als fiktionale Erzählung eine Form gefunden. Dabei weiche die explizite Vergewaltigungsszene - quasi der aufwühlende Höhepunkt der Geschichte - am weitesten von der Realität ab, sagt Haslinger.
"Das ist einfach der Fantasie geschuldet in dieser Form. Ich weiß gar nicht, wie detailreich ich überhaupt darüber reden soll. Es ist ja auch die Geschichte eines Versagens. Ich bin ja einem solchen Sexualakt gar nicht gewachsen gewesen. Mit zwölf schon gar nicht, auch nicht mit vierzehn, weil ich ihm nie gewachsen war, ich bin eben nicht homosexuell. Aber ich dachte es, vielleicht ist es so und ich weiß es nicht."
Eine Vergewaltigung, wie Josef Haslinger sie in "Die plötzlichen Geschenke des Himmels" beschrieben hat, habe er selbst nie erlebt. Im Fiktionalen konnte er das Geschehen zuspitzen, Dinge tun, von denen er damals nur geträumt hatte. Doch seine Geschichte sei auch aus einem Racheimpuls heraus entstanden, erinnert er sich heute, sie sei "moralisch einwandfreie Fiktion", die gut in gegenwärtige Debatten passen würde.
Haslinger sagt: "Irgendwann kam ich zu dem Punkt, mir im Nachhinein zu erklären, wie war das jetzt von meiner Seite aus gesehen. Und da muss ich einfach sagen, ich hatte auch eine gewisse Neugierde auf das, dieses Verborgene, der von Kindern geschützte und fern gehaltene Bereich der Sexualität, von einem Erwachsenen und einem Kind - was will der eigentlich von mir? Das hat mich auch interessiert, ja. Also ich hab mich nicht dagegen gesträubt und war dann allerdings doch sehr verstört, das muss ich natürlich auch sagen."

Ein männlicher Körperpanzer

Während Josef Haslinger das Schreiben über das, was ihm als Kind im Kloster widerfahren ist, als einen Akt der Befreiung empfunden hat, konnte bei Christian Kracht eine bewusste literarische Auseinandersetzung mit seiner Missbrauchserfahrung nicht stattfinden, allein schon deshalb, weil er das Erlebte vierzig Jahre lang verdrängt hat, wie er sagt. Doch das Verdrängte hat durch das Unterbewusstsein dennoch einen Weg in sein schriftstellerisches Werk gefunden, das, davon ist Kracht überzeugt, nun noch einmal neu gelesen werden müsse.
Die ihm oft vorgeworfene Distanziertheit und "mitleidlose Härte", der Sarkasmus, das Elitäre, all das führt Kracht selbst nun auf die verdrängten Erfahrungen im Internat zurück, die sein Werk unbewusst geprägt hätten. Er habe seinen Figuren einen "männlicher Körperpanzer" angelegt, interpretiert Kracht sich selbst, sie mit "ausschweifender Unbarmherzigkeit" ausgestattet, um das Trauma der Misshandlung zu verarbeiten.

"Das sprachlose Kind mit Schwanz"

Sexualität, Körperlichkeit, Eros und Begehren prägen das Werk des Autors Bodo Kirchhoff: "Ich hab es schon zum allerersten Mal erwähnt 1993 in meiner Poetikvorlesung. Das hat niemanden interessiert. Dann hab ich es in einer übertrieben fiktiven Form dargestellt in 'Parlando', das hat auch niemanden interessiert. Dann habe ich einen Artikel im Spiegel geschrieben. Das hat dann plötzlich alle interessiert, weil das in die Zeit der Debatte fiel. Das war aber auch noch nicht das, was ich nah am Wahrhaftigen empfunden hätte, und nun habe ich es in aller Ruhe erzählt."
In seinem autobiografischen Roman "Dämmer und Aufruhr" erzählt Kirchhoff von seinen "frühen Jahren", wie der Untertitel verrät. Es sind Kindheits- und Jugenderinnerungen in Romanform, die 2018 erschienen sind, Erinnerungen an eine meist glückliche Zeit für den Heranwachsenden, bis zum Scheitern der Ehe seiner Eltern und die Abschiebung des Jungen in ein evangelisches Internat am Bodensee.
"Ich hab meine Eltern dann monatelang nicht gesehen, vom Sommer fast bis zu Weihnachten und habe in dieser Zeit sofort irgendwie Anlehnung gesucht, Götter, an die ich mich halten kann." Einer dieser Götter ist der Kantor der Einrichtung, Herr Gieser, der aussieht wie Winnetou, und sich dem Jungen rasch und eindeutig nähert.
Als "sprachloses Kind mit Schwanz" bezeichnete Bodo Kirchhoff den Jungen, der er einmal war, in dem bereits erwähnten Spiegelartikel von 2010, und den Kantor als einen "verdammten Päderasten", der "geilen Unsinn" flüsterte – Worte, die der Junge nicht verstand, nicht verstehen konnte. Der Erwachsene habe ihn in mit einer "Sprachnot" zurückgelassen, die auch der spätere "Sex-Sprachmüll" nicht lindern konnte. Das Wort "Missbrauch" will Kirchhoff für das Erlebte nicht gelten lassen, wie er meint: "Daraus hat sich etwas ergeben, was am Ende unter dem Strich doch eine Art Beziehung war, von seiner Seite zweifellos ganz falsch, will ich ganz klar sagen, aber etwas, was ganz schwer nur unter ein Wort zu fassen ist, hab ich auch nie getan."

Gefühlsverwirrung und Verstörung

Kirchhoff erzählt er von seiner damaligen Gefühlsverwirrung und Verstörung, der Suche nach Anerkennung und macht nachvollziehbar, warum der Heranwachsende dem Drängen des charismatischen Pädagogen nachgibt. Die größte Enttäuschung ist dann die Erkenntnis, dass er nicht der Einzige war, an dem sich der Kantor vergangen hat.
"Natürlich war ich der Unterlegene," so Kirchhoff, "und natürlich ist das auch etwas, was eine juristische und moralische Grenze überschreitet. Ohne Frage. Und trotzdem ist es im Rückblick so, das ich das Gesamte sehe, das Stück Beziehung. Beziehungsweise ich sehe, dass das Ganze ein Teil der Conditio humana ist, nämlich zu begehren und gleichzeitig begehrenswert zu sein."
In "Dämmer und Aufruhr" beschreibt Bodo Kirchhoff auch die Folgen des sexuellen Übergriffs, die Auswirkungen auf nachfolgende Beziehungen zu Mädchen und Frauen, die Suche nach einer sexuellen Identität und nach einer Sprache für das Geschehene. Erst als Siebzigjähriger hat er die Worte für das, was war, gefunden und zeigt damit auch die Möglichkeiten der Literatur, fernab von Skandalen, intimen Bekenntnissen und Schwarz-Weiß-Mustern einer Geschichte ihren Raum zu geben.
"Schreiben," sagt er, "heißt für mich, sich schreibend zu verändern. Es ist ein Prozess, der mit mir etwas anstellt, aus dem ich anders hervorgehe als ich reingegangen bin. Und das macht für mich auch den Sinn des Schreibens aus in einer Zeit, wo das Lesen immer mehr zurückgeht. Da bleibt dieser Sinn völlig unangetastet."
(DW)

Sprecher*in: Anjorka Strechel und Toni Jessen
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal

Eine Wiederholung der Sendung vom 7.12.2018
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