Brodelnde Nachbarschaft

Von Michael Stürmer |
Manchmal fällt die Geschichte mit der Tür ins Haus, ein ungebetener Gast, und jeder Status quo geht zu Bruch. Und so geht es auch heute, wenn die Europäer von ihren südlichen Küsten gen Süden und Südosten schauen.
Was dort geschieht und was noch lange nicht zu Ende ist, das verändert alle politischen, wirtschaftlichen und moralischen Koordinaten.

Das Mittelmeer liegt, wie der Name sagt, in der Mitte, vielleicht nicht der Welt, aber jedenfalls des europäisch-arabisch-kleinasiatischen Verkehrsverbunds. Es ist kein Trennungsgraben, sondern ein – wie die Römer schon wussten – mare nostrum, ein Binnengewässer. Vom südlichen Ufer zum nördlichen ist es nah, zu nah für Gleichgültigkeit. Auf die Europäer werden Zumutungen zukommen, vom Ölpreis bis zu Flüchtlingsströmen, die bis Ende Januar 2011 man sich noch nicht vorstellen konnte oder wollte. Weder, dass die arabische Straße statt nach Mohammed und Djihad nach Freiheit und Arbeit schreien würde, noch dass ihre Tyrannen, einige jedenfalls, sich nach kurzem Zögern ins innere oder äußere Exil davonmachen würden.

Es war in Europa ja nicht unbekannt, dass die arabische Staatenwelt aus Familienunternehmen wie Syrien oder Saudi-Arabien oder aus Militärherrschaften bestand, manche schlimmer als andere. Die Europäer waren es gewohnt, das Beste zweier Welten zu haben: Zuhause die Demokratie und in den Ölstaaten starke Männer, die alles im Lot hielten – die aber mittlerweile ins Straucheln gerieten und ins Stürzen und ihre Militär- plus Geheimdienstsysteme mit.

Die gute Nachricht lautet, dass die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz in Kairo nicht islamistische Parolen skandieren, sondern Freiheit, Arbeit und Zukunft haben wollen. Die schlechte Nachricht lautet, dass die Ursachen der Revolten und Revolutionen tiefer liegen: Die globale Finanzkrise, der Anstieg des Brotpreises, die Knappheit der Rohstoffe, das alles verstärkt Armut und Massenarbeitslosigkeit. Diese Ursachen werden weiterhin bleiben: teure Energie, teure Rohstoffe, teures Brot und wenig wirtschaftlich-industrielle Kraft.

Enttäuschung wird deshalb die nächsten Jahre prägen, unausweichlich, und es ist nicht sicher, dass die Militärs, die in Ägypten die Macht übernommen haben, sie künftig an Gewählte in Zivil abgeben werden. Ähnlich wird es in Tunesien gehen und in Libyen. Bis zur lupenreinen Demokratie wird noch viel Wasser den Nil herunter fließen.

Die Europäer haben bisher eine halbherzige Mittelmeer- und Nachbarschaftspolitik betrieben. Angst vor Völkerwanderungen Richtung Norden paarte sich mit einem Ruhebedürfnis, das brutale Diktaturen hinnahm, wenn sie es nicht zu brutal trieben.

Präsident Ronald Reagan hat dem libyschen Gaddafi 1986 zur Strafe für Staatsterrorismus ein paar Raketen vors Zelt gesetzt und ihm eine Lehre erteilt. Heute aber geht es nicht um Terroraktionen, sondern um das Regime als Ganzes, die Menschen und das Öl. Die benachbarten Araber haben nicht die Kraft zum Eingreifen, die Europäer nicht den Nerv, und Amerika ist anderswo engagiert. China und Russland halten sich heraus.

Und doch: Europa kann vor der Krise nicht davonlaufen. Die EU hat seit Jahrzehnten lebenswichtige Interessen am anderen Ufer, von Öl über Menschenrechte und Prosperität bis zu Verhinderung des militanten islamischen Fanatismus. Das alles fortzuführen ist notwendig, aber nicht ausreichend. Bildung und Ausbildung, kultureller Austausch und zuletzt und vor allem Direktinvestitionen werden gebraucht.

Ein Marshall-Plan für Maghreb und Mashraf? Das klingt, als ob es allein am Gelde läge. Soll man bei alldem den Saudis den Vortritt lassen, die gern Moscheen finanzieren und Prediger, aber an praktischer Verbesserung des irdischen Lebens – jedenfalls für Andere – wenig Interesse gezeigt haben?

Europa kann leider nicht auf die Araber warten. Es ist die Chance der gegenwärtigen Umbrüche, dass sie im Namen der Freiheit vorangetrieben werden und dass europäische Lebensverhältnisse das Ideal sind. Wie auch immer das alles ausgeht, das Mittelmeer ist unentrinnbare Nachbarschaft.

Der 1938 in Kassel geborene Historiker und Autor Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte".
Michael Stürmer
Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub
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