Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende"

Nicht die ganze Wahrheit

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Buchcover zu "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" von Brigitte Kronauer.
Brigitte Kronauers letztes Buch erzählt vom "Schönen, Schäbigen, Schwankenden". © Klett-Cotta
Von Jörg Plath · 30.08.2019
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Brigitte Kronauer erzählt in ihrem letzten Buch 39 Porträts von Menschen, deren Leben in einem Moment eine dramatische Wendung nimmt. Die elegante Leichtigkeit hält die Autorin aber nicht im ganzen Buch durch.
Zu Beginn des letzten Buches der im Juli verstorbenen Brigitte Kronauer erzählt eine Autorin, sie sei in das Haus eines Ornithologen und seiner Frau gezogen, die für drei Monate verreist sind. In dem Idyll "mit blauen Schlagläden" setzen Charlotte allerdings die zahlreichen Zeichnungen von Vögeln zu, während es auf den Spaziergängen durch das umliegende, vermüllte Brandenburg die lebenden Exemplare sind. Die Vögel wecken Erinnerungen an Freunde und Bekannte, die dringend aufgeschrieben werden wollen.
Um Herrin der Situation zu bleiben, teilt Charlotte die entstehenden 39 Porträts in drei Teile, in – so der Titel der "Romangeschichten" – "Das Schöne, Schäbige, Schwankende", denn diese Kategorien durchliefen alle Figuren. Nach nur sieben Wochen tauchen allerdings, verstört von schrecklichen Erlebnissen, die Hauseigentümer auf, beenden Charlottes produktiven Arbeitsaufenthalt und bringen die Ordnung des Manuskripts durcheinander. Nun beginnt das zweite Kapitel mit eben jenen 39 Porträts.

Der Autorin ist nicht zu trauen

Willkommen im Minenfeld von Kunst und Leben, dem bevorzugten Aufenthaltsort Brigitte Kronauers. Willkommen auch im "Gewäsch und Gewimmel", wie einer ihrer Romane heißt. Die Kategorien des "Schönen, Schäbigen, Schwankenden" sind gewiss nicht falsch, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn das Buch besteht nicht nur aus den annoncierten 39 Porträts. Der erzählten Autorin ist nicht zu trauen, der sie erzählenden noch weniger.
Buchcover: Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende"
Buchcover: Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende"© Buchcover: Klett-Cotta Verlag, Foto: dpa/Erwin Elsner
Die Porträts zeigen Kronauers stupende Erzählkunst. Erstaunlich abwechslungsreich schildern sie auf gut zehn Seiten Menschen in einem lebensentscheidenden Augenblick. Die nicht mehr ganz junge Franziska etwa ist in der Heiligen Stadt bezirzt von einem schönen Mann, der an ihr erst vorüberging, nun wieder näher kommt, so nahe, dass die liebeserfahrene Franziska zitternd zu wissen meint, was gleich geschehen wird – würde da nicht plötzlich ein Vespamotor aufheulen und sich schnell entfernen, mitsamt dem Schönen und ihrer Handtasche, was Franziska erst nach vielen Gläsern zuhause in seiner umfänglichen Bedeutung realisiert.
Ähnlich ergeht es den übrigen 38 Gestalten. Alle durchleben – ob kapriziös oder leicht beschränkt, schön oder unscheinbar, gierig oder bedürftig – einen Moment, in dem ihr Leben kippt und das Bild, das sich der Leser von ihnen gemacht hat, gleich mit.

Schwerfällige Konvention

Irritierenderweise folgen auf die angekündigten Porträts drei weitere Kapitel. Die elegante Leichtigkeit weicht nun allerdings zuweilen schwerfälliger Konvention. Im letzten Kapitel bietet der Isenheimer Altar, den ein etwas starrsinniger Rentner der verehrten Haushälterin erläutert, einen Schlüssel zu den "Romangeschichten": Matthias Grünewald malte Stationen der Passionsgeschichte, Brigitte Kronauer erzählt vielstimmig und abwechslungsreich von nicht weniger entscheidenden Momenten mitsamt der sie stets übersteigenden Sehnsucht.
Christlichen Trost bietet die Hamburgerin nicht. Aber ihre Leser können sich laben an einem quecksilbrigen Stil und einer unerbittlichen Wahrnehmungszärtlichkeit, die im Schäbigen das Schöne aufspürt und andersherum. Oder doch zumindest das Schwankende.

Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende". Romangeschichten
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
596 Seiten, 26 Euro

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