Brief-Sammlung

Nachrichten aus der Zwischenwelt

Eine Lesebrille liegt auf einem Bücherstapel.
Die Briefe von Gertrud Kolmar geben auch einen Einblick in Kolmars vielseitige Lektüren - Thomas Mann, Martin Buber, Hermann Hesse. © picture alliance / dpa / Ismo Pekkarinen
Von Carola Wiemers · 06.06.2014
Dieser Band versammelt Briefe der Lyrikerin Gertrud Kolmar aus den Jahren 1920 bis 1943. Sie berichtet darin von seelischen Nöten, Zwangsarbeit und ihrer totalen Entwurzelung durch die Judenverfolgung der Nazis.
Als Gertrud Kolmar am 23.7.1941 der elf Jahre jüngeren Schwester Hilde schreibt: "Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein", bleiben ihr noch knapp zwei Jahre, bis sie am 27.2.1943 im Zuge der "Fabrikaktion" verhaftet und am 2. März mit dem 32. Osttransport nach Auschwitz deportiert wird. Dieser Tag gilt als ihr Todesdatum, da sie den Transport nicht überlebte.
Gertrud Kolmar (eigtl. Gertrud Käthe Chodziesner) wurde 1894 in Berlin geboren. Äußerst sprachbegabt, lernt sie neben Englisch und Französisch auch Tschechisch, Flämisch, Spanisch und legt 1916 die Staatliche Sprachlehrerinnenprüfung für Französisch und Englisch ab. Erste Gedichte, die zeitgleich entstehen, erscheinen 1917 auf Vermittlung des Vaters unter dem Pseudonym "Kolmar" - es ist der deutsche Name für seine polnische Heimatstadt Chodziés.
Die vorliegende Publikation ist die dritte, erweiterte Ausgabe der Briefe Kolmars. Sie umfasst alle bislang bekannten "brieflichen Mitteilungen" (so die Herausgeberin Johanna Woltmann), die zwischen 1920 und 1943 geschrieben wurden. Neben dem Konvolut an die 1938 in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde als Herzstück der Sammlung, sind es Briefe an den Cousin Walter Benjamin sowie an den Schriftsteller Jacob Picard. Bei drei Schreiben an die in Vermont lebende Schauspielerin Leni Steinberg handelt es sich um Erstveröffentlichungen.
Das entbehrungsreiche Leben in der Berliner "Judenwohnung"
Den Briefsendungen an die Schwester werden zudem ab und an Mitteilungen an das "kleine Ungeheuer" Sabine beigelegt, in denen das erzählerische Talent der Dichterin zum Vorschein kommt. Die 1933 geborene Nichte hielt sich oft bei Tante "Trude" in der idyllisch gelegenen Villa in Finkenkrug auf, wo sie nach Einschätzung Hildes von ihr mit "mütterlicher Fürsorge" umgeben wurde.
Die Briefe geben auch einen Einblick in Kolmars vielseitige Lektüren - Thomas Mann, Martin Buber, Hermann Hesse -, wobei sie vor allem in Rilkes Werk ein Künstlertum bewundert, das sie selbst ersehnte: denn er war stets Künstler, "nicht bloß, wenn er gerade dichtete, nicht bloß in den kurzen Stunden des Erhobenseins – wie wir andern".
Kolmars Überzeugung, keine "vortreffliche Briefeschreiberin" zu sein, da ihr die Schilderung des Ablaufs täglicher Verrichtungen nicht liegt, verleihen den Briefen eine historisierende Tiefe. Eindringlich spricht sie vom entbehrungsreichen Leben in der Berliner "Judenwohnung", die sie nach der Enteignung mit dem Vater beziehen muss und als totale Entwurzelung erlebt. Ohne Klage berichtet sie von der harten Zwangsarbeit, die sie ab 1941 leistet und von der seelischen Not, keinen Raum für sich zu haben. Der Ort, von dem aus sie spricht, ist eine "Zwischenwelt", in der sich die Vernichtung jüdischen Lebens mit barbarischer Selbstverständlichkeit vollzieht.

Gertrud Kolmar: Briefe
Hrsg. von Johanna Woltmann
Durchgesehen von Johanna Egger und Regina Nörtemann
Wallstein Verlag, Göttingen 2014
324 Seiten, 24,90 Euro

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