Brasiliens Schicksalswahl

Stresstest für die Demokratie

21:55 Minuten
Ein Mann steht in einer Menge auf der Straße und hält ein großes buntumrandetes Foto von Lula da Silva an einem Stock in der linken Hand. Mit der rechten streckt er Zeigefinger und Daumen in die Höhe.
Karneval in São Paulo - viele Menschen in Brasilien verbinden mit Lula da Silva goldene Zeiten, die anderen den größten Korruptionsskandal des Landes. Jetzt versucht er ein Comeback. © IMAGO / NurPhoto / IMAGO / Cris Faga
Von Anne Herrberg und Burkhard Birke |
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Am 2. Oktober sind Präsidentschaftswahlen in Brasilien: Aussichtsreichste Kandidaten sind Amtsinhaber Bolsonaro und Ex-Staatschef Lula da Silva. Der führt in den Umfragen. Viele fürchten eine gewalttätige Reaktion Bolsonaros im Fall einer Niederlage.
Sie strecken ihm die Hände entgegen, als stände der Allmächtige persönlich vor ihnen. Pastor Silas Malafaia, 63, Hornbrille, maßgeschneidertes Jackett und dandyhaft zurückgegeltes Haar läuft sich erst ein bisschen warm – bevor er mit erhobenem Zeigefinger seine Meinung zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ins Mikrofon schreit.
„Wer Drogen verteidigt, wer Abtreibung verteidigt, wer die Homo-Ehe verteidigt, für den sind wir die Fundamentalisten. Das ist die Kultur des Marxismus, der kontrolliert das Denken, es ist schlimmer als die Diktatur. Im Namen von Jesu, die Korrupten, die Plünderer der Nation werden nicht an die Macht zurückkehren!“
Seine Worte hallen wider aus rund 6000 Kehlen.
Mehrere nebeinander sitzende junge Frauen mit geschlossenen Augen und die Hände an der Brust beten konzentriert.
Beten und Singen auch für Jair "Messias" Bolsonaro - Anhängerinnen der evangelikalen Megakirche des Pfingstpredigers Silas Malafaia.© Anne Herrberg, ARD-Studio Rio de Janeiro
Silas Malafaia ist ein mächtiger Mann in Brasilien. Der prominente Pfingstprediger ist Chef der evangelikalen Megakirche „Assembleia de Deus Vitória em Cristo“, der „Versammlung Gottes für den Sieg mit Christus“.
Neben der Hauptkirche, hier in Penha, einem Arbeiterviertel in der Nordzone von Rio de Janeiro, unterhält sie rund 150 weitere Tempel im Land und hat rund 12 Millionen Anhänger. Damit die auch wissen, wo sie bei der Wahl am 2. Oktober ihr Kreuzchen setzen sollen, hat Malafaia seinen Kandidaten an diesem Tag gleich mitgebracht.
„Noch nie in der Geschichte Brasiliens hatten wir einen Präsidenten, der das christliche Volk, die Kirche Jesu und Gott so ehrte wie Jair Messias Bolsonaro!“

Diesem Volk schulde ich Treue. Ich bin mir sicher, dass das Gute weiterhin das Böse besiegen wird.

Präsident Jair Bolsonaro vor evangelikalen Christen

Mito, nennen sie ihn hier, Mythos. Jair Bolsonaro, der mit zweitem Namen Messias heißt, ist zweimal geschieden, Waffen-Fan und international bekannt für seine rassistischen und frauenfeindlichen Tiraden.

Pandemie verhöhnt, Amazonas abgebrannt

Die Pandemie, die in Brasilien fast 700.000 Menschenleben forderte, verhöhnte er als „kleines Grippchen". Seine Familie muss sich derweil rechtfertigen, wieso sie mehr als 50 Häuser mit großen Packen Bargeld kaufte. Währenddessen brennt der Amazonas. Jetzt aber steht Jair Messias Bolsonaro neben Malafaia und lächelt andächtig.
"Diesem Volk schulde ich Treue. Ich bin mir sicher, dass das Gute weiterhin das Böse besiegen wird.“
Meinen Spirituellen Berater, so nennt Brasiliens Präsident den Pastor, er ist einer seiner wichtigsten Unterstützer im Wahlkampf.
Zwei junge Frauen in Jacken stehen vor einem bestuhlten Raum mit Publikum.
"Wir halten unserem Präsidenten die Treue" - Catherine Tonell (li.) und Priscilla Casar in der Kirche von Silas Malafaia.© Anne Herrberg, ARD-Studio Rio de Janeiro
Denn im einst größten katholischen Land der Welt bekennen sich heute rund 70 Millionen zu einer evangelikalen Kirche – jeder dritte Brasilianer. Tendenz steigend. Die Mehrheit ihrer Anhänger wählt Bolsonaro.
„Die evangelikale Kirche ist eine Macht. Und natürlich werden wir auch Einfluss nehmen. Jawohl! Und wir erklären: Niemand wird bei diesen Wahlen Betrug am souveränen Willen des Volkes begehen!“

Umfragen: Bolsonaro liegt hinter Lula da Silva

Nun ist es allerdings so, dass der ultrarechte Amtsinhaber Bolsonaro laut allen relevanten Umfrageinstituten hinter seinem größten Widersacher bei dieser Wahl liegt, dem früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Der inzwischen 76-jährige linke Sozialdemokrat regierte Brasilien von 2003 bis 2010 und manche sagen, er könnte die Wahl eventuell schon im ersten Durchgang für sich entscheiden.
Doch hier, in Malafaias Kirchen, glauben sie diesen Umfragen nicht, auch Catharine Tonell nicht, sie ist 34 und Angestellte im öffentlichen Dienst.
„Ganz ehrlich, ich glaube, dass diese Umfragen gekauft und manipuliert sind. Wir halten unserem Präsidenten die Treue, er verteidigt unsere Prinzipien. Gestern habe ich ein Video gesehen: Darin war zu sehen, wie die linke Arbeiterpartei versucht, Kirchen zu infiltrieren und Kinder mit dem Sozialismus zu indoktrinieren. Sozialismus bedeutet Elend.“
 
Bolsonaro steht in einer kleinen Schar von Anhängern mit gelben Käppis, überall sind grüne Laken und er winkt ins Publikum.
Was plant er, falls er verliert? - Präsident und Präsidentschaftskandidat Bolsonaro im Wahlkampf.© IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / O Globo
In den Augen von Bolsonaros Anhängern ist der Präsident Opfer einer Verschwörung des linken, politischen Establishments, das versuche Brasiliens Demokratie zu sabotieren – mit dem Obersten Gerichtshof als Speerspitze.
Dazu gäbe es ein Komplott, die elektronischen Wahlurnen zu manipulieren, um Bolsonaro um den Sieg zu bringen. Belege legt dafür niemand vor. Das braucht es auch gar nicht, schließlich geht es in ihrer Welt darum, Schlimmeres zu verhindern.
„Wir wissen, dass wir einen Kampf des Guten gegen das Böse vor uns haben. Ein Böses, das 14 Jahre lang in unserem Land gewütet hat, das fast unsere Heimat zerstört hätte und das nun an den Ort des Verbrechens zurückkehren will. Sie werden es nicht schaffen!", ruft der Präsident wenige Tage zuvor, am Nationalfeiertag, vor einer in Grün und Gelb gekleideten Fanmeile, in Brasilia.

Lula, der Dieb, der ins Gefängnis soll?

Lula, du Dieb, dein Platz ist im Gefängnis“, singt die Menge zurück. Dass Bolsonaros Herausforderer ausgerechnet Luiz Inácio Lula da Silva ist, passt natürlich perfekt ins Bild.
In seiner Präsidentschaft explodierte der bisher größte Korruptionsskandal der Landesgeschichte rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras. Verstrickt waren darin fast alle Parteien, eben auch Lulas linke Arbeiterpartei, die damals an der Regierung war.
Eine Gruppe von jungen Leuten in Grün-Gelb steht vor einem Tor und strahlt in die Kamera, Baby inklusive.
Bolsonaros Farben: Catharine Tonell und - fast - alle ihrer Kolleginnen tragen gerne Gelb-Grün.© Anne Herrberg, ARD-Studio Rio de Janeiro
Für die Rechte gilt Lula deswegen als der Strippenzieher von allem. Er selbst beteuerte stets seine Unschuld und sprach schon damals von einem Komplott. 2017 wurde auch er selbst wegen Korruption verurteilt. Das bedeutete auch, dass er 2018 bei den Wahlen nicht antreten durfte – auch wenn er die Umfragen anführte.
Als er im November 2019 wieder freikam, war Jair Bolsonaro Präsident und der Richter, der Lula verurteilt hatte, sein Justizminister. Später wurde er für befangen erklärt. Der Oberste Gerichtshof annullierte 2021 alle Urteile. Das macht Brasiliens oberste Justiz für Bolsonaros Anhänger umso mehr zum Feindbild Nummer eins.
"Rechtsstaat und Demokratie. Immer!", steht auf dem Banner, das entlang der Arkaden von Rios Katholischer Universität gespannt ist. Hunderte drängen sich am 11. August im Innenhof.

"Ein Moment immenser Gefahr"

Brasilien erlebe einen "Moment immenser Gefahr", heißt es in dem Brief, der an diesem Tag an Universitäten im ganzen Land verlesen wird. „Ebenso unbegründete wie unbewiesene Attacken stellten nicht nur die Integrität des Wahlsystems infrage, sondern auch die so hart erkämpfte Demokratie Brasiliens.“
Rund 45 Jahre vorher ging ein ebensolches Manifest, verfasst an der Rechtsfakultät von São Paulo, in die Geschichte ein. Im Jahr 1977 forderte es Brasiliens Militärs zur Abkehr von der Diktatur auf. Es markierte einen Wendepunkt und gab Anstoß zum Widerstand auf verschiedenen Ebenen, sagt Marcelo Jasmin. Damals war er ein junger Student.
Heute forscht er als Professor über die politische Geschichte Brasiliens und sorgt sich, dass die Vergangenheit ihn wieder einholen könnte.
„Damals befanden wir uns in einer Diktatur und kämpften dafür, eine Demokratie aufzubauen. Und plötzlich sehen wir sie wieder bedroht, von einem Diskurs, der auf Lügen und Fanatismus beruht, und darauf abzielt, die so hart erkämpfte Legitimität unserer demokratischen Institutionen zu zerstören.“
Bolsonaro selbst erklärte später, es sei ein "kleines Briefchen", das einige "Holzköpfe" und "Kommunisten" verfasst hätten. Unterzeichnet allerdings wurde das Manifest von rund einer Million Brasilianer und Brasilianerinnen, darunter Professorinnen und Bankiers, Industrielle und Gewerkschaftler. Doch: Ist ihre Sorge begründet?

Bolsonaros autoritäre Agenda

Steht bei dieser Wahl Grundsätzliches auf dem Spiel?
„Ja, die Sorge ist absolut begründet. Er verfolgt eine autoritäre Agenda.“ Das sagt Marcos Nobre, Philosophieprofessor der renommierten Universität von Campinas. Gerade hat er ein Buch veröffentlicht: über die Angriffe des ehemaligen Fallschirmjäger-Offiziers Bolsonaro, auf Brasiliens Demokratie.
„Was wir verstehen müssen ist, dass Bolsonaro ein Bewunderer der Militärdiktatur ist, die 21 Jahre lang, bis ins Jahr 1985, gedauert hat. Aber er weiß auch, dass er heute kein Regime wie damals mehr errichten kann. Seine Vorbilder sind die Autokraten dieses Jahrhunderts, die erst das Vertrauen in die Demokratie aushöhlen, um dann progressiv Freiheiten einzuschränken: Leute wie Viktor Orban, Donald Trump. Sie alle nutzen ihm als Beispiele für Taktiken und Techniken, die er ergreifen kann.“
Vier Jahre lang habe Bolsonaro nun daran gearbeitet, das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen zu zerstören. Auch wenn Bolsonaro die Wahlen nicht gewinnt und eine Niederlage anerkennt, wird es für seinen Nachfolger enorm schwer, glaubt Nobre.
„Eines der gravierendsten Folgen dieser Jahre unter Bolsonaro ist, dass es ihm gelang, die öffentliche Agenda zu entführen. Wir haben aufgehört über ernsthafte Lösungen für die großen Probleme des Landes zu diskutieren: Hunger, soziale Ungleichheiten, das Fehlen guter staatlicher Dienstleistungen", sagt Marcos Nobre.
"Stattdessen müssen wir im Jahr 2022 darüber diskutieren, ob unser Wahlsystem, das bisher zuverlässig funktioniert hat, wirklich zuverlässig ist, wie wahrscheinlich ein Putsch ist. Wir erleben ein Klima der Gewalt, Leute äußern sich lieber nicht mehr, aus Angst vor Angriffen. All das zeigt, wie erfolgreich das autoritäre Projekt bereits jetzt ist.“

Brasilien steckt seit Jahren in der Krise

Brasilien steckt bereits seit Jahren in der Krise. Sie begann schon während der Amtszeit der Arbeiterpartei, damals, als nach Lulas goldenen Jahren der Rohstoffboom abebbte, das Land unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff in die Rezession schlitterte.
Als dann noch die ganzen Korruptionsskandale ans Licht kamen, wurde aus Frust erst Protest dann Wut – ganz besonders auf die Linken an der Macht. Auch damit hat der Aufstieg Bolsonaros zu tun.
Eine junge Frau in gelbem Shirt trägt ein grünes Käppi auf dem "Bolsonaro 2022" steht.
Frauen schwärmen, Professoren warnen - hat Bolsonaro vier Jahre lang nur daran gearbeitet, das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen zu zerstören?© IMAGO / Fotoarena / IMAGO / Sandro Pereira
Zur Wahl 2018 präsentierte er sich erfolgreich als der Antipolitiker, der mit Klüngel und Amtsschimmel aufräumen wolle. In seiner Amtszeit sind bloß die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden, schimpft dagegen Padre Julio Lancelotti. Seit mehr als 40 Jahren kümmert er sich in Brasiliens Megametropole São Paulo um Obdachlose.

33 Millionen Brasilianer werden nicht satt

Seit Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff 2016 des Amtes enthoben wurde, sei die Zahl der Bedürftigen drastisch angestiegen.
„Die Pandemie hat die Situation noch verschlimmert. Aber sie ist nicht allein schuld, sondern die Wirtschaftslage, das neoliberale System kennt nur eine Logik und die heißt, Menschen auszuschließen. Alle, die man hier sieht, finden keinen Platz in der Gesellschaft und haben keine Aussicht auf Besserung.“
Zwischen luxuriösen Apartments und gläsernen Wohntürmen der Wirtschaftsmetropole São Paulo durchwühlen Menschen den Müll auf der Suche nach etwas Essbarem. Brasilien ist einer der größten Nahrungsmittelproduzenten der Erde, trotzdem werden 33 Millionen Brasilianer nicht satt, haben immer weniger einen geregelten Job.
Unter Bolsonaro wurde bei Sozialprogrammen drastisch gekürzt, sagt Walter Belik, ein emeritierter Ökonomieprofessor, der jahrelang bei der FAO, der UN-Welternährungsorganisation arbeitete.
„Für die Schulspeisung von 43 Millionen Kindern sollte das Budget um 2 Milliarden Reais angehoben werden. Aber Bolsonaro hat Veto eingelegt. Jetzt aber haben sich seine politischen Unterstützer im Parlament 43 Milliarden zur freien Verfügung genehmigt, um Stimmen bei der Wahl zu bekommen.“
Ein Mann im dunklen Jacket sitzt vor einem Wasserglas mit einem Mikrofon in der Hand und ist gerade am Sprechen.
Schafft Lula da Silva das spektakuläre Comeback? Dann hinterlässt ihm die Regierung Bolsonaro Brasilien gespalten und in einem explosiven wirtschaftlichen Zustand.© IMAGO / TheNews2 / IMAGO / Yuri Murakami
Allerdings kündigte Bolsonaro vor drei Monaten plötzlich ein umfangreiches soziales Hilfsprogramm an, pünktlich zum Beginn des Wahlkampfes. Kritiker bezeichnen das Ganze als Lizenz zum Stimmenkauf, doch die Zahlen scheinen ihm recht zu geben.

"Macht euch bereit, ich komme zurück"

Brasiliens Wirtschaft, die seit mehr als zehn Jahren stagnierte, wächst in diesem Jahr wohl um rund 1, 5 Prozent und damit weit mehr als erwartet. Außerdem sank die Arbeitslosigkeit auf 9 Prozent und damit auf den niedrigsten Stand seit fast zehn Jahren. Sagt Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel von der Hochschule Fundação Getúlio Vargas.
„Dieses Wachstum steht für die Erholung nach der Pandemie, ist aber auch den enormen öffentlichen Ausgaben geschuldet. Nachhaltig ist es nicht, denn Brasilien hat weiterhin große strukturelle Probleme und die neue Regierung, egal wer es sein wird, wird eine Schuldenbombe erben. Brasilien gibt zu viel Geld aus. Das sorgt für Inflation und schreckt Investoren ab. Ich bin nicht sehr optimistisch, was die Wirtschaft betrifft.“

Auch wenn die anderen jetzt vielleicht nervös werden: Macht euch bereit, denn ich komme zurück, wir werden dieses Land wieder auf die Füße stellen.

Präsidentschaftskandidat Lula da Silva im Wahlkampf

Bei Portela, einer der größten Sambaschulen von Rio de Janeiro, herrscht trotzdem beste Stimmung. Die in den traditionellen Farben Blau und Weiß gestrichene Arena im Arbeiterviertel Madureira leuchtet an diesem Sonntag Ende September in Knallrot – den Farben der Arbeiterpartei, den Farben Lulas.
„Auch wenn die anderen jetzt vielleicht nervös werden: Macht euch bereit, denn ich komme zurück, wir werden dieses Land wieder auf die Füße stellen. Und ihr könnt am Wochenende wieder die Familie einladen, ein saftiges Rinderstück auf den Grill schmeißen und ein Glas kaltes Bier dazu trinken. Wir brauchen keine großen Dinge, um glücklich zu sein."
Eine Gruppe von Frauen ganz in Rot zieht mit Plakaten und Postern von Lula da Silva durch die Straßen der Stadt.
Demonstration in São Paulo: Rot ist die Farbe der Arbeiterpartei - und die von Lula da Silva.© IMAGO / NurPhoto / IMAGO / Cris Faga
Der Ex-Präsident wird empfangen wie ein Popstar. Auch mit 76 Jahren noch. Glicia Lins, 46 legt die Hand aufs Herz, ist den Tränen nahe. Für Lula ging ich damals zum ersten Mal wählen, sagt sie.
„Es gab noch nie jemanden wie Lula, jemanden, der so viele Menschen mobilisiert hat, seht euch das an! Ich habe immer von dem Tag geträumt, an dem Lula zurückkehrt.“

Sie verzeihen ihm alle Fehler

Lins ist schwarz und stammt aus Rios armer Westzone. Ohne Lulas Sozialprogramme wäre ich heute niemals hier, sagt die studierte Historikerin, die Geschichte an einer öffentlichen Schule lehrt.

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Es ist dieses Erbe, das Lula nun verteidigen will: Mehr als 30 Millionen seien während seiner Amtszeit aus der Armut geholt worden, die Wirtschaft boomte, angeheizt durch den globalen Hunger nach Rohstoffen. Die Zeitschrift "The Economist " druckte auf ihr Titelblatt damals eine Christusstatue, die wie eine Rakete abhob.
„Das ist, was sie an Lulas Sozialpolitik stört: Dass die Tochter einer Haushälterin plötzlich Schuldirektorin war, im Restaurant auftauchte und den Kopf hochhielt. Und mit Bolsonaro haben sie einen Vertreter gefunden, um ihre Frauenfeindlichkeit, die Homophobie und den Rassismus weiter ausüben zu können.“
Für seine Anhänger bleibt er der Volksheld – auch wenn auch bei Lulas Arbeiterpartei Frauen und Nicht-Weiße völlig unterrepräsentiert sind. Doch sie verzeihen ihm alle Fehler. Auch dass er nie Verantwortung für die Korruptionsfälle in seiner Partei übernommen hat und die Strukturen kaum erneuert wurden. 
„Korruption kam in unserer Regierung ans Licht, weil wir den Teppich gelüftet haben, unter dem früher alles verscharrt wurde. Wir haben mit verschiedenen Gesetzen Transparenz erst ermöglicht. Und Bolsonaro will der Gesellschaft erklären, er sei der Ehrliche? Er, seine Familie und seine Scheinangestellten? Mir kam es nie in den Sinn, die Staatsanwaltschaft oder die Bundespolizei zu kontrollieren. Denn starke Institutionen sind der Garant für unsere Demokratie."
Zwei Frauen bei einer Demonstration ganz in Rot gekleidet.
Mutter und Tochter - beide bekennende Fans von Lula da Silva.© Anne Herrberg, ARD-Studio Rio de Janeiro
„Vamos Juntos pelo Brasil“, heißt das parteiübergreifende Bündnis, mit dem Lula, im Team mit seinem einstigen Kontrahenten, dem konservativen Gerardo Alckmin, bei diesen Wahlen gewinnen will: „Gemeinsam für Brasilien“. Man könnte es auch so lesen: Gemeinsam gegen Bolsonaro.
Und Lula weiß: Mit keinem Thema könnte er, im Fall seiner Wahl, Brasilien auch international wieder Gewicht geben – und Allianzen schmieden – als mit einer entschiedenen Kehrtwende bei der Amazonaspolitik.

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„Wir müssen die staatliche Kontrolle über den Amazonas wieder erlangen, um von Souveränität sprechen zu können. Wir werden der Gesellschaft sagen: Kein illegales Eindringen mehr in die indigenen Schutzgebiete, kein illegaler Bergbau mehr", sagt Bolsonaro.
"Die Wissenschaft zeigt, wir können mehr gewinnen, wenn wir den Amazonas erhalten, wenn wir das Ökosystem und die Biodiversität nachhaltig nutzen, statt den Wald abzuholen. Dieses Land braucht Ordnung.“
Kann so ein neuer Aufbruch gelingen?

Was passiert bei einer Niederlage Bolsonaros?

Die Welt ist eine andere als noch zu Anfang der Nullerjahre: Die Staatskasse ist leer, neue Kriege toben auf dem Globus und – sollte Lula wirklich gewählt werden, müsste er außerdem mit Millionen treuer Bolsonaro-Anhänger klarkommen, die ihn nicht nur als korrupten Dieb, sondern auch als Betrüger betrachten, der nun auch noch eine Wahl gestohlen hat. Drohen gar Szenen wie beim Sturm auf das US-Kapitol in Washington im Januar 2022?
Die Stimmung ist aufgeheizt, geteilt in eine Freund-Feind-Logik, Aggressionen nehmen zu. Es gab bereits tödliche Angriffe auf Lula-Anhänger. Was bei einer möglichen Niederlage Bolsonaros wirklich geschieht, ist die große Unbekannte bei dieser Wahl.
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