Sklaverei in Brasilien

Das Erbe von Rio de Janeiro

25:04 Minuten
"Man verkauft - Schwarzes Fleisch - Tel: 190" steht neben der Wandmalerei eines großen Männerporträts im ehemaligen Sklavenviertel an der Pedra do Sal in Rio de Janeiro.
"Man verkauft - Schwarzes Fleisch - Tel: 190" steht neben einer Wandmalerei im ehemaligen Sklavenviertel an der Pedra do Sal in Rio de Janeiro. © picture alliance / dpa/ Peter Bauza
Von Anne Herrberg und João Soares · 26.07.2022
Audio herunterladen
Nach Brasilien wurden mehr Sklaven verschleppt als in die gesamten USA. Der Menschenhandel wird bis heute heruntergespielt. Eine junge Generation schwarzer Brasilianer fordert, strukturellen Rassismus aufzuarbeiten und die Polizeigewalt zu beenden.
„Wenn ich Rio de Janeiro sage, egal zu wem auf der Welt, was kommt den Menschen zuerst in den Sinn?“ Das fragt die Historikerin Sadakne Baroudi und hat auch gleich die Antwort parat.
„Die Christusstatue, die Strände von Copacabana und Ipanema, der Zuckerhut, Karneval. Dabei ist das Allererste, woran wir alle bei der Stadt Rio de Janeiro denken sollten, ein toter Afrikaner, der in Ketten gefesselt ist. Denn Rio de Janeiro ist die Welthauptstadt der Sklaverei“, kritisiert sie.

Knochenfunde im eigenen Garten

Sadakne Baroudi gehört zu einer kleinen Gruppe von Expertinnen und Experten, die sich um die Aufarbeitung der schwarzen Geschichte Rios kümmern. Während die Stadt selbst alles tat, um sie zu begraben. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, wie Merced Guimarães erfahren musste.
Als sie auf die ersten Knochen in ihrem Hinterhof stieß, dachte sie zuerst, jemand hätte dort seinen Hund beerdigt. Beim nächsten Spatenstich kam dann allerdings ein Kieferknochen mit menschlichen Zähnen zum Vorschein – und dann immer mehr Überreste.

Das war im Januar 1996. Wir hatten beschlossen, unser Haus zu renovieren. Es war ein sehr altes Haus hier im Hafenviertel Gamboa. Dann fanden wir Reste von Gebissen, Schädeln, Schenkelknochen, die meisten in kleine Stücke gebrochen. Was mich besonders schockte, war, dass ich den Kiefer eines Kindes fand. Ich fragte mich, was ist hier bloß geschehen? Es sah nach einem Gemetzel aus. Hatte da jemand seine gesamte Familie umgebracht?

Merced Guimarães

Das, was Merced Guimarães und ihr Mann da unter der Betonschicht ihres Hinterhofes fanden, waren die Spuren nicht nur eines einzigen Verbrechens, sondern Zehntausender. Ihr Haus stand auf einem Massengrab. Auf den Knochen von schätzungsweise 40.000 Leichen – alle afrikanischer Herkunft. Heute weiß man: Es war der größte Sklavenfriedhof des 18. und 19. Jahrhunderts. Wobei das Wort Friedhof die Sache beschönigt. Die Menschen wurden einfach entsorgt, sagt Merced.
„Es war ein Friedhof des Chaos, an dem jegliche Würde mit Füßen getreten wurde, als wäre es eine Müllhalde. 60 Jahre lang ging das. Bis 1830. Nur 36 Jahre später wurde unser Haus darauf gebaut. Die Geschichte wurde begraben, weil es eine Geschichte ist, die Brasiliens Gesellschaft vergessen will“, sagt sie.
Rund die Hälfte aller Menschen, die zwischen dem 16. Und dem 19. Jahrhundert aus Afrika nach Amerika verschleppt wurden, landeten im portugiesischen Kolonialreich Brasilien. Mehr als 5,5 Millionen Sklaven. Über zwei Millionen davon wurden allein nach Rio de Janeiro verfrachtet. Das sagen aktuelle Forschungen.

Rio als größter Umschlagplatz für Sklaven

„Es ist unmöglich, die Geschichte der Kolonialisierung von der Geschichte des Menschenhandels zu trennen. Der Sklavenhandel nach Brasilien beginnt etwa um 1530. Zuerst geht es um Arbeitskräfte für die Zuckerplantagen im Nordosten, Anfang des 18. Jahrhunderts gewinnt dann Rio an Bedeutung, mit der Entdeckung der Goldminen im Hinterland, im heutigen Minas Gerais“, sagt Ynaê Lopes dos Santos.

Als Historikerin studiert sie die Geschichte der Sklaverei in ihrem Heimatland und damit auch die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren. „Ab dem 18. Jahrhundert steigt Rio zum größten Umschlagplatz für Sklaven auf. Die weiße Elite von Rio de Janeiro ist mit dem Kauf und Verkauf afrikanischer Männer und Frauen groß geworden. Und der Aufstieg von Rio de Janeiro zur Hauptstadt des Imperiums, zum Versailles der Tropen, fußt auf Sklavenarbeit.

Ynaê Lopes dos Santos

Rios Eliten, portugiesische Kaufleute und neue Colonos, machten gigantische Gewinne im globalen Dreiecksgeschäft: Ihre Schiffe brachten Glasperlen, Maniokmehl oder Zuckerrohrschnaps nach Afrika; die Kapitäne tauschten dafür Sklaven und verkauften die Erzeugnisse der Sklavenarbeit, wie Zucker, Kaffee und Edelmetalle, nach Europa. Während in Afrika Wirtschaftsstrukturen zerstört, Familien auseinandergerissen und ganz Landstriche entvölkert wurden.
Blick auf den Cais do Valongo in Rio de Janeiro
Der Cais do Valongo in Rio de Janeiro war zwischen 1811 und 1843 das zentrale Drehkreuz des Sklavenhandels in Südamerika.© picture alliance / NurPhoto / Luiz Souza
Der Ort, an dem die meisten Sklaven nach Brasilien gebracht wurden, liegt Luftlinie nur 500 Meter vom Haus der Guimarães entfernt, an einer dreispurigen Avenida: die Cais do Valongo, die Valongo-Kaimauern waren zwischen 1811 und 1843 das zentrale Drehkreuz des Sklavenhandels in Südamerika.

Es gibt kein Denkmal und kein Museum

Zu sehen sind davon heute nur noch ein paar Treppenstufen aus großen Granitblöcken und eine Art Pier, der an mehreren Stellen abgesunken ist. Anfang der 1840er-Jahre wurde über die alte Anlegestelle ein neuer Kai gebaut, der Cais da Imperatriz – zu Ehren der künftigen Gattin des Kaisers von Brasilien, die aus Europa eintraf. Noch später wurde eine Straße über den historischen Ort gelegt.
Im Jahr 2011 kamen die ursprünglichen Cais dann eher zufällig zum Vorschein, im Rahmen der Bauarbeiten zur großen Hafensanierung von Rio. Nach langem Kampf von Bürgerbewegungen wurden sie 2017 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Laut der Gedenktafel wurden hier 500.000 Sklaven abgeladen, offizielle Forschungen gehen inzwischen von einer Million aus, Sadakne Baroudi spricht von mindestens 1,5 Millionen.
“Ich nenne das hier ein Infrastrukturprojekt für den Menschenhandel. Schon auf den Schiffen wurde die Ladung vorsortiert: Galten sie als marktfähig, wurden sie in kleinen Booten an Land geschafft und direkt verkauft. Waren sie zu schwach, wurden sie zuerst in sogenannten ‚Casa de Engorda‘, also Masthäusern hochgepäppelt. Es gab einen Großhandel, der dort drüben gelegen haben muss. Verkauft wurde einzeln oder in kleinen Gruppen, per Kilopreis. Rundherum fand dann der Wiederverkauf statt, überall hier gab es kleine Geschäfte für den Sklaveneinzelhandel“, erklärt sie.

Auf Bildern aus der Zeit, die heute noch in Schulbüchern verwendet werden, sieht das oft recht harmlos aus. Aber es war keine ‚sanfte Sklaverei‘, zu der manche es bis heute romantisieren wollen. Vier bis sieben Jahre war die durchschnittliche Lebenserwartung nach Ankunft in Brasilien.

Sadakne Baroudi

Als „pretos novos“ wurden sie angepriesen, als neue oder frisch eingetroffene Schwarze. Von „Einweg-Arbeitskräften“, die benutzt, zu Tode geschunden und dann durch die nächsten ersetzt wurden, spricht Historikerin Baroudi. Tausende überlebten die Überfahrt auf den Sklavenschiffen erst gar nicht.
Sie landeten direkt auf dem Grundstück, auf dem heute das Haus von Merced Guimarães steht. “Wir benachrichtigten die Stadtverwaltung, sie erklärten, wir müssten unser Haus wegen der Grabungen erst mal verlassen. Aber nichts ist passiert. Außer dass unser Innenhof mit den Monaten und Jahren voller Wasser lief und die Wände Risse bekamen.”
2002 kehrte das Ehepaar zurück, schüttete die Löcher zu, renovierten den Innenhof und befestigten ein Schild an der Tür: “Cementerio dos Pretos Novos”, steht darauf, “Friedhof der neuen Schwarzen”.
Später kauften sie das Nachbarhaus dazu und richteten dort ein kleines Museum ein, wo sie Vorträge, Workshops für Schulklassen und Kulturabende organisieren. Alles auf Privatinitiative. Mal gab es einen Zuschuss, dann wurde er wieder gestrichen, heute können sie nicht einmal die Stromrechnung davon bezahlen.

Widerstand formiert sich langsam

Um 1800 bestand die Hälfte der Bevölkerung aus Sklaven, oder ehemaligen Sklaven, die frei gelassen oder sich frei gekauft hatten. Es gab Treffpunkte, kulturellen Austausch, schwarzes Leben – und auch Widerstand, sagt Historikerin Ynaê Lopes dos Santos.
„Die Eliten waren sehr darauf bedacht, den Widerstand so klein wie möglich zu halten. So versuchte man, Afrikaner verschiedener Regionen zu mischen, damit sie sich nicht verständigen konnten“, erklärt sie.
Und weiter: „Die meisten Sklaven, die hier her verschleppt wurden, kamen aus Zentralafrika, dem heutigen Angola und Kongo. Sie gehörten den Bantu-Völkern an, sprachen zwar nicht dieselbe Sprache, aber teilten doch kulturelle Praktiken. Daraus entstanden verschiedene Formen des kollektiven Widerstands, und je weiter wir ins späte 19. Jahrhundert vordringen, desto intensiver wird er.“
Der Jongo, ein Rhythmus und Tanz, gehört zu diesem Widerstand, erklärt Lazir Sinval.
„Die Jongo-Runden wurden in den Sklavenhütten getanzt. Es waren die wenigen Momente, in denen sich unsere Schwarzen ausdrücken konnten. Es war eine Form der verschlüsselten Kommunikation, eine Form des Widerstandes gegen die brutale Sklaverei. Über den Jongo wurden Fluchten arrangiert, wurden Bande geschmiedet, man verständigte sich über Verwandte, tauschte Informationen aus. Der Sprache des Jongo ist voller Metaphorik.“
Lazir Sinval erzählt die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren, die aus Angola verschleppt auf den Kaffeeplantagen des Paraíba-Tals im Hinterland Rios schuften mussten – über vier Generationen wurde das Erbe des Widerstandes weitergegeben. Lazir ist heute Sängerin und Komponistin der ältesten Jongo-Gruppe von Rio, des Jongo da Serrinha.

Jongo verbindet uns mit unseren Ahnen: mit den Pretos Velhos, den alten Schwarzen, die unsere Geschichte geschrieben haben. Ich hatte das Glück, dies alles von klein auf zu lernen, im Kreise meiner Familie. Denn leider hören wir in der Schule nichts über unsere schwarze Kultur, wir lesen darüber nichts in den Büchern. Es ist, als ob die Geschichte unserer Meister, unsere Helden und Heldinnen ausgelöscht werden soll. Dabei ist es die Geschichte unsers Landes Brasilien.

Lazir Sinval

Erst 1888 wird die Sklaverei abgeschafft

1807 beendet die Großmacht England die Sklaverei und beginnt Druck zu machen – doch Portugal spielt auf Zeit, genauso hält es das neue Kaiserreich Brasilien. Erst 1888 wird die Sklaverei offiziell abgeschafft, so spät wie in keinem anderen Land auf dem amerikanischen Kontinent.
„Die Abschaffung der Sklaverei brachte erst einmal kaum eine Verbesserung der Lebensbedingungen für das schwarze Volk,“ weiß Lazir Sinval. „Sie wurden entlassen ohne Entschädigung, sie hatten keine Mittel, kein Land. Viele zogen nach Rio de Janeiro, die damalige Hauptstadt, doch dort wurden sie aus dem Zentrum vertrieben. Also zogen sie auf die Morros, die Hügel.“
Es ist eine Konstante in der Stadtgeschichte von Rio de Janeiro. Für alle größeren Urbanisierungsprojekte seit Anfang des 20. Jahrhunderts mussten eben jene Viertel weichen, die von Sklaven oder ihren Nachfahren bewohnt wurden. Es entstand, eher zwangsweise, was heute noch als „Klein-Afrika“ bekannt ist – eine Gegend, deren Zentrum rund um den Pedra do Sal, den Salzfelsen, liegt.
Die 400 in den Granit geschlagenen Stufen erinnern noch heute an die Zwangsarbeit, die versklavte Afrikaner hier verrichten mussten. Gleichzeitig entstand genau dort ein Ort der Freiheit, ein sogenanntes Quilombo, ein Viertel des Widerstandes befreiter Sklaven.
Auch heute noch finden an der Pedra do Sal ursprüngliche Samba-Runden statt – aber rund herum hat die Gentrifizierung begonnen. „Klein-Afrika“ wurde von Rios weißen Hipstern als Ausgehviertel entdeckt – erneut kämpfen Nachfahren von Sklaven gegen die neue Art der Verdrängung: die Immobilienspekulation.

Diskriminierung auf allen Ebenen

Es gehört zu den großen Widersprüchen Brasiliens, dass nahezu alles, was seine Gegenwartskultur ausmacht – der Samba, der Karneval, der Fußball – von Schwarzen geprägt wurde. Diese Wurzeln aber immer wieder unsichtbar gemacht werden.
Zur nationalen Identität des modernen Brasiliens gehört die Überzeugung, dass in dem Land angeblich kein Rassismus wie zum Beispiel in den USA existierte. Tatsächlich gab es in Brasilien keine juristische Apartheid. Das brauchte es auch gar nicht. Die Rollenverteilung in Brasiliens Gesellschaft ist bis heute klar. Oben weiß, unten schwarz.
Die Nachfahren der Sklaven stellen heute mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, aber keinen Bundesminister. Weit überdurchschnittlich repräsentiert sind sie in der Mordopferstatistik, in den Gefängnissen und vor allem in Rios Armenvierteln, den rund tausend Favelas.
Zwischen 2006 und 2015 tötete Rios Militärpolizei fast doppelt so viele Menschen wie alle Sicherheitskräfte in den 50 US-Bundesstaaten zusammen. 86 Prozent der Opfer waren: jung, männlich und schwarz.
Gegründet wurde die Militärpolizei 1809, nach der Ankunft der portugiesischen Königsfamilie in Rio – mit dem Ziel, Sklavenrevolten niederzuschlagen, Geflüchtete wieder einzufangen und Plantagen zu schützen. Die Grundstruktur wurde seitdem nicht reformiert. Bis heute zeigt das Wappen auf den Uniformen ein Zuckerrohr, eine Kaffeepflanze und darüber die Krone.

Karneval als Bühne des Widerstands

Im April 2022 findet Rios berühmter Karneval statt – nach der Corona-Pause. Gleich der erste Wagen zeigt das Thema, das den ganzen Umzug bestimmen wird: die Sklaverei-Geschichte Brasiliens und ihre Auslöschung.
Auf einer Projektionsfläche werden Videos vom Tod von Georg Floyd in den USA gezeigt, gemischt mit Bildern von wütenden Protesten in Brasilien. Am Ende machen acht der zwölf großen Sambaschulen Brasiliens schwarze Wurzeln, den Rassismus und den Widerstand dagegen zum Thema ihrer Präsentation.
Die Historikerin Ynaê Lopes dos Santos sieht Zeichen des Wandels. „Es ist Zeit, dass wir die Perspektive auf unsere Geschichte verändern und als Land des Karnevals, des Samba und des Fußballs endlich verstehen, was Karneval, Samba und Fußball ist. Dahinter stehen Menschen, die etwas zu sagen hatten und haben und endlich einbezogen werden müssen, in gesellschaftliche Debatten“, sagt sie.

Gerade jetzt, in diesem politischen Moment, in dem Intoleranz und Rassismus erneut an Stärke gewonnen haben: Dieser Karneval 2022 ist eine Reaktion darauf. Es ist deswegen auch notwendig, zurück zu den Wurzeln zu gehen. Denn der Samba war immer eine Form des Widerstandes gegen Unterdrückung.

Ynaê Lopes dos Santos

Mehr zum Thema