Brasilien

Vom Gefängnis aufs Spielfeld

Blinde Fußballer aus Brasilien (l) und China während der Paralympics 2008 in China
Blinde Fußballer aus Brasilien (l) und China während der Paralympics 2008 in China © picture alliance / dpa / Foto: epa Oliver Weiken
Von Mirco Lomoth  · 03.06.2014
Der sogenannte Rasselball, mit dem auch Blinde Fußball spielen können, kommt - natürlich - aus Brasilien. Und obwohl seine Produktion in brasilianischen Gefängnissen als erfolgreiches Resozialisierungsprojekt gilt, droht der Produktion finanzielle Aus.
Ein Betonhof im Zentrum der brasilianischen Stadt Curitiba. Vier Jungs rennen einem rasselnden Fußball hinterher. Sie sehen ihn nicht, sie hören ihn nur. Sie sind blind.
"Ich schlurfe beim Laufen etwas, um ein Geräusch zu erzeugen, das von der Wand zurück geworfen wird, damit ich nicht dagegen laufe. Ich klatsche entweder in die Hände... oder ich mache ungefähr so..."
Clayton Lucas hat sein Augenlicht durch Krebs verloren, als er drei Jahre alt war. Heute ist er 14 Jahre alt, seine Augen liegen verschlossen in einem aufgeweckten Gesicht. Selbstsicher rennt er über den ummauerten Hof des Blindenvereins von Curitiba.
Ein silberner Ball, der aussieht wie ein normaler Fußball
Trainer Mario Sergio Fontes ist selbst blind und ein Star des brasilianischen Blindenfußballs.Vor 19 Jahren hat er den brasilianischen "Rasselball" mitentwickelt, der vom Internationalen Blindensportverband 2002 als offizieller Wettkampfball anerkannt wurde. Ein silberner Ball, der aussieht wie ein normaler Fußball, aber bei jeder Bewegung rasselt. Kügelchen in Metalldosen an der Innenseite erzeugen das Geräusch, das für Blinde so wertvoll ist.
"Es gab früher keine Serienproduktion in Brasilien, wir hatten wirklich wenig Bälle. Als ich in Sao Paolo auf die Schule gekommen bin, haben wir mit Dosendeckeln gespielt, das war ziemlich gefährlich, aber es ging. Außerhalb unseres Landes haben nur Spanien, und ich glaube England, Bälle für den Blindenfußball produziert, aber die waren sehr teuer."
Die brasilianischen Bälle hingegen wurden von Anfang an kostenlos an Blindenvereine abgegeben. Die Regierung hat sie jahrelang sogar unentgeltlich in alle Welt verschickt und damit zur Verbreitung des Sport beigetragen. Häftlinge stellen sie in einem Gefängnis bei Curitiba her. Das Projekt soll sie auf den Arbeitsmarkt vorbereiten und eine günstige Produktion dringend benötigter Blindenfußbälle ermöglichen.
Carlos Eduardo de Oliveira näht rasselnde Ballteile aneinander, er sticht eine dicke Nadel in grünes Latex und zieht einen gewachsten Faden hinterher. Acht Häftlinge sitzen hier auf der Veranda eines kleinen Holzhäuschens und nähen Blindenfußbälle von Hand. Warmer Wind streift durch Palmenblätter. Es ist der halb offene Vollzug, der angenehmste Ort des Piraquara-Gefängnisses bei Curitiba.
"Wir wissen, dass dieBälle für Blinde gedacht sind und dass viele Blinde nicht Fußball spielen können, weil sie keinen solchen Ball haben. Wir freuen uns, dass sie durch unsere Arbeit auch Spaß haben können."
Einen Tag Hafterlassung für drei Tage Arbeit
Gut eineinhalb Jahre muss de Oliveira noch im halb offenen Vollzug absitzen. Für drei Tage Arbeit im Blindenfußball-Projekt bekommt er einen Tag Haft erlassen. Die Chancen für eine gelungene Resozialisierung steigen - bisher wurden nur etwa 20 Prozent der Projektteilnehmer wieder straffällig.
"Wenn ich frei bin, würde ich gerne mit dem Projekt weiter machen und in meiner Stadt eine Ballproduktion aufbauen und den Leuten beibringen, was ich hier gelernt habe. Und ich würde gerne einen Blinden kennen lernen, ihm einen unserer Bälle mitbringen und mit ihm Fußball spielen!"
In einer Produktionshalle im Speckgürtel von Curitiba bereiten andere Häftlinge das Material vor, das Carlos und seine Kollegen auf der Veranda verarbeiten. Mit einer Maschine stanzen sie fünf- und sechseckige Ballteile aus großen Bögen PVC und Latex und kleben die Rasseln auf. Pro Ball sechs flache runde Metalldöschen. Dann pumpen sie die fertig genähten Bälle aus dem Piraquara-Gefängnis auf und backen sie in einer Art kugelförmigem Waffeleisen, damit sie eine gleichmäßige Form erhalten.
Draußen vor der Halle steht Roberto Canto, ein Mann mit ergrauendem Bart. Er ist der Leiter des offenen Vollzugs in Paraná. Zusammen mit dem blinden Trainer Fontes hat er den Rasselball entwickelt und 1995 die Gefängnisproduktion gestartet. Mehr als 150.000 Blindenfußbälle haben Häftlinge seither produziert und Millionen andere kostenlose Sportartikel für Bedürftige. Zeitweise haben sich Gefängnisse aller 26 Bundesstaaten beteiligt.
"Mir bedeutet das Projekt sehr viel, ich habe die letzten 19 Jahre damit zugebracht, dass es wächst, vor allem das Blindenfußballprojekt, weil viele Blinde weltweit sonst nicht die Chance hätten, Fußball zu spielen. In afrikanischen Ländern haben Blinde erst angefangen, nachdem wir die Bälle gespendet haben."
Doch Canto kämpft darum, dass die Häftlinge weiterhin Rasselbälle herstellen können. Denn die Regierung hat in den letzten Jahren den Geldhahn immer weiter zugedreht. Für das Jahr der Fußball-WM hat Canto noch einmal Gelder bekommen. Doch im Oktober finden in Brasilien Wahlen statt. Dann könnte wieder alles gestoppt werden.
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