Weltmeisterschaft

"Brasilien hat sich mit der WM nicht übernommen"

Eine ältere Frau hebt ein Schild in die Höhe, auf dem steht "Tourists, don't come to the worldcup danger country" - "Touristen, kommt nicht ins WM-Gefahren-Land"
Demonstranten in Sao Paulo warnen Touristen davor, nach Brasilien zu kommen © picture alliance / dpa / Antonio Lacerda
Tina Hennecken im Gespräch mit Julius Stucke · 02.06.2014
Die heftigen Proteste in Brasilien gegen die WM im eigenen Land seien Ausdruck eines neuen politischen Bewusstseins einer gewachsenen Mittelklasse, sagt Tina Hennecken vom Brasilien-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Demonstrationen richteten sich gegen steigende Mieten infolge der Verbesserung der Infrastruktur.
Julius Stucke: Die Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften soll es werden, sagt Dilma Rousseff, Brasiliens Präsidentin. In zehn Tagen geht sie los, die Fußball-WM im Land des Rekordweltmeisters, und diese Rekordgeschichte begann 1958 in Schweden.
Rekordverdächtig sind bei der anstehenden WM allerdings auch die Sicherheitsmaßnahmen. Zehntausende Polizisten und Soldaten sind im Einsatz, teilweise schweres Gerät: Kriegsschiffe, Hubschrauber und Radarflugzeuge. Brasilien hat Angst vor Ausschreitungen – berechtigte Angst? Und warum gehen viele Brasilianer gegen die WM auf die Straße? Darüber spreche ich mit Tina Hennecken, sie leitet das Brasilien-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sao Paulo. Grüße Sie, Frau Hennecken!
Tina Hennecken: Schönen guten Morgen, Herr Stucke!
Stucke: Frau Hennecken, schon im letzten Jahr protestierten beim Confederations Cup eine Million Brasilianer gegen die WM. Seitdem gibt es immer wieder Proteste, erst in der letzten Woche auch in der Hauptstadt Brasilia. Was ist denn der Hauptgrund, das entscheidende Problem in der brasilianischen Gesellschaft für diesen Protest?
Aufstieg der Mittelklasse
Hennecken: Ich finde, der Ex-Präsident Lula hat das am Freitag in einem Interview ganz gut auf den Punkt gebracht. In den letzten Jahren gab es deutliche Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Brasilien, und diese Verbesserungen haben eben auch zu einem anderen Bewusstsein, zu einem anderen politischen Bewusstsein der Brasilianer geführt und zu einem neuen Forderungsniveau, zu einer Forderungsmacht der Brasilianer.
In den letzten zehn Jahren wurde die Armut in Brasilien um 70 Prozent reduziert, 20 Millionen formale Arbeitsplätze wurden geschaffen, und mit affirmativen Politiken versuchte man, diese historischen Ungleichheiten, die in der brasilianischen Gesellschaft bestehen, anzugehen. Es kam also zum Aufstieg einer neuen Mittelklasse oder sogenannte neue Arbeiterklasse, sagt man hier, die am Ende des Monats mehr Geld im Geldbeutel hat. Aber eben weiterhin mit den strukturellen Problemen vor allem in den Großstädten Brasiliens zu kämpfen hat und das nicht mehr länger akzeptieren möchte.
Oder, wie Lula sagte, früher konnte man sich nur das fettige Schulterstück für den Mittagstisch leisten, heute ist die Mittelrippe schon da, was eine qualitative Verbesserung ist, aber man will eben auch das Recht auf das Filetstück.
Eine Demonstrantin hält in Sao Paula eine Fahne Brasiliens mit der Aufschrift "Fifa, fahre zur Hölle!" in die Höhe.
Protest gegen die Fußball-WM in Sao Paulo.© pa/dpa/EFE/Moreira
Stucke: Es gibt mehr Geld im Land, es kommt aber bei den Menschen nicht richtig an?
Ungleichheiten lassen sich nicht schnell beseitigen
Hennecken: Es kommt an. Es wird umverteilt. Es wurde in den letzten Jahren stark in die Gesundheitsversorgung und in das Bildungssystem unter anderem investiert. Die Präsidentin hat auch auf die Manifestationen, auf die Demonstrationen im letzten Jahr mit fünf Pakten reagiert, die noch mal deutlich Geld bereitgestellt haben für die Verbesserung der Infrastruktur. Aber es dauert eben, bis sich solche Ungleichheiten dann auch beseitigen lassen.
Stucke: Und jetzt gehen die Menschen auf die Straße. Hat sich Brasilien mit der WM übernommen?
Hennecken: Ich würde sagen, Brasilien hat sich nicht mit der WM übernommen. Das ist auch ein gewisse Übertreibung in der Medienberichterstattung sicherlich zu sehen, die nicht ganz untypisch ist vor solchen sportlichen Großveranstaltungen. Ich denke da auch an Südafrika, wo bis kurz vor Spielbeginn immer noch über einen möglichen Austragungs-B-Ort spekuliert wurde, falls es die Südafrikaner nicht schaffen.
Aber Brasilien hat sicherlich sich eine ganz schön herausfordernde Hausaufgabe gegeben mit dieser WM, denn von Anfang an hat Brasilien diesen Zuschlag für die WM auch als Anerkennung seiner neuen Rolle verstanden. Aufstrebendes Schwellenland, hat sich wirtschaftlich hervorgetan, ist im Rahmen der BRICS und IPSA jetzt auch Einfluss auf die internationale Politik und hat seine sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Hausaufgaben zu Hause angegangen.
Präsident Lula hat auch immer gesagt, das ist die Chance, dass wir Brasilien jetzt der Welt vorstellen können in seiner ganzen kulturellen, politischen und sozialen Vielfalt.
Großes Land, große Herausforderungen
Nun ist natürlich Brasilien auch ein ganz schön großes Land mit kontinentalen Ausmaßen. Nur um das plastisch zu machen, wenn man von Sao Paulo nach Manaus fliegt, dauert das fünf Stunden. Wenn man fünf Stunden von Deutschland aus fliegt, ist man schon in der Mitte vom afrikanischen Kontinent.
Diese geografischen Ausmaße erfordern natürlich auch besondere Anstrengungen in die Infrastruktur. Wenn man diese Vielfalt vorstellen möchte seinen Gästen, und wenn man auch möchte, dass nicht nur die Großstädte, die bekannt sind, nämlich Rio, Sao Paulo, Brasilia und vielleicht noch Salvador von der WM profitieren, aber das Land im Ganzen. Und deswegen mehr Stadien, und deswegen auch mehr Ausgaben für die Infrastruktur als bei anderen WMs.
Stucke: Frau Hennecken, Sie sagen , das Problem wird ein bisschen hochgespielt, aber 100.000 Polizisten, Zehntausende Soldaten – warum sind die dann da?
Hennecken: Die sind da, um natürlich die Sicherheit der Touristen und die Sicherheit der brasilianischen Bevölkerung zu garantieren, wenn Sie die WM anschauen möchten. Ich sage nicht, dass es keine Demonstrationen gibt. Es wird sicherlich Demonstrationen geben, und man bereitet sich, wie bei Großevents üblich, eben auch auf Probleme vor.
Stucke: Wie viele von diesen Problemen, von den Schwierigkeiten des Landes werden denn die Besucher bei der WM zu sehen bekommen, die vielen Touristen, die kommen?
Demonstrationen werden zielgerichteter
Hennecken: Wir gehen davon aus, dass es auf jeden Fall Demonstrationen geben wird. Aber die Demonstrationen, die 2014 stattfinden, unterscheiden sich deutlich von denen von 2013. 2013 war dieses große politische Erwachen. Man ging auf die Straße, hatte sehr, sehr verschiedene Forderungen. Die Demonstrationen, die wir 2014 beobachten, sind deutlich kleiner und sind deutlich zielgerichteter.
Man kann also auch sagen, dass die traditionellen sozialen Bewegungen, die im letzten Jahr noch ziemlich überrascht worden sind von dieser großen, neuen Politisierung, daraus gelernt haben und schauen, wie sie diese Forderungen auch einfangen und in die traditionelle Arbeit einbinden, und auch in ihre traditionellen Forderungen einbinden.
Was wir heute sehen, sind im Endeffekt vier Gruppen. Es gibt immer noch kleinere Proteste, die wirklich sich gegen die Weltmeisterschaft und gegen die Ausgaben der Weltmeisterschaft richten. Es gibt Gewerkschaften, die die Aufmerksamkeit vor der WM natürlich nutzen, um Druck auf die Regierung auszuüben, um ihre Lohnforderungen durchzusetzen und ihre besseren Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Und es gibt starke Bewegungen, die diese prekäre Situation in den Großstädten aufgreifen. Im letzten Jahr hatten wir schon die Demonstration für einen besseren öffentlichen Nahverkehr gesehen.
Und was im Moment sehr stark herauskommt, sind die Bewegungen für sozialen Wohnungsbau. Denn die Valorisierung oder die Inwertsetzung bestimmter Viertel durch die Weltmeisterschaft, durch die Infrastrukturförderung hat dazu geführt, dass die Mieten wahnsinnig angestiegen sind. Und da gibt es eben im Moment sehr starke Proteste dagegen. Das werden sicherlich auch die Touristen mitbekommen.
Stucke: Brasilien zehn Tage vor der WM. Über den Protest gegen das Großereignis und die Probleme im Land habe ich mit Tina Hennecken gesprochen. Sie leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sao Paulo. Frau Hennecken, danke Ihnen und einen schönen Tag.
Hennecken: Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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