Das Orchester der Zukunft
Das Boston Symphony Orchestra, eines der Big Five in den USA, kommt zum ersten Mal seit Jahren wieder nach Europa auf Tournee. Die Tour ist Teil einer gezielten Vermarktungsstrategie, die auch digital angelegt ist.
Letzten Sommer an einem lauen Abend auf dem Rasen in Tanglewood, dem Sommerdomizil des Boston Symphony Orchestras. In einer abgeteilten Zone: Zahlreiche Besucher auf mitgebrachten Gartenstühlen mit Smartphones und Tablets auf dem Schoß.
"Ich finde das phantastisch, wenn man nicht unmittelbar an der Bühne sitzen kann",
meinte Ed Weissman. Früher hatte er zusammen mit seiner Frau der Musik einfach nur gelauscht. Diesmal konnte er auf dem Monitor seines Smartphones zur Abwechslung auch mal etwas sehen. Den Dirigenten. Den Solisten. Das Spiel der Cellisten und Bassisten.
Das Experiment war möglich geworden, weil man in Tanglewood schon seit ein paar Jahren ohnehin alles mit mehreren Kameras auf Video aufzeichnet. Die Bilder wurden aber bis dahin nur auf großen, in der Parkanlage verteilten Monitoren übertragen. Nun wollte man sie auch über WLAN weiterreichen. Eine Idee, die so manchen begeisterte. Darunter die Violinistin Anne-Sophie Mutter.
"Man konnte wählen zwischen drei Kamerawinkeln. Und man hatte in der Pause die Möglichkeit, sich Interviews über die Werke anzuschauen. Das sind tolle neue Ansätze, hier dadurch auch die Verbreiterung ins 21. Jahrhundert zu schaffen."
Das Boston Symphony Orchestra ist bei diesem Sprung in die Zukunft womöglich einen Schritt zu weit gegangen. Das Spiel mit der drahtlosen digitalen Technik und den Mobilgeräten der Klassikkundschaft wurde in diesem Jahr wieder auf Eis gelegt. Die Kosten rechtfertigen offensichtlich nicht den Aufwand. Man konzentriert sich im Bereich Technik auf andere Wirkungskreise: auf Webcasts übers Internet zum Beispiel und auf Public Viewing. So wie Anfang August.
Dirigent vergleicht das Orchester mit einem Ferrari
Da kamen auf einem Platz in der Bostoner Innenstadt immerhin 1000 Besucher zusammen, um die Übertragung von Gustav Mahlers 8. Sinfonie aus Tanglewood live zu erleben. Dirigiert von Andris Nelsons, der vor einem Jahr den Posten des Musikalischen Direktors übernommen hatte. Ein Mann, der nicht mit neuer digitaler Technik für das Orchester wirbt, sondern vielmehr mit seinem jugendlichen Elan und seinen musikalischen Ansprüchen:
"Wir haben den Ehrgeiz, das Orchester regelmäßig nach Europa, Japan, Südamerika, nach Australien zu bringen. Und wir wollen die Möglichkeit haben, Aufnahmen zu machen. Es ist eines der besten Orchester der Welt. Das ist wie mit einem Ferrari. Du willst zeigen, dass du einen Ferrari hast."
Wenn man in dem Bild bleiben will, das der 36-jährige benutzt, der übrigens keinen Führerschein hat: das Boston Symphony Orchestra war in den letzten Jahren tatsächlich gezwungen, das edle Auto hauptsächlich in der Garage zu parken. Man konnte es allenfalls im engsten Umkreis präsentieren. In der Symphony Hall in Boston im Winter und in Tanglewood – zwei Stunden mit dem Auto entfernt – im Sommer. Der Grund: Nelsons Vorgänger James Levine fiel häufig und dann auch länger wegen Krankheit aus. Als er 2011 abtrat, blieb die Position zunächst vakant. Das Orchester schlummerte ein wenig vor sich hin.
Neue Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon
Nun ist alles anders. Im April wurde die Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon bekannt gegeben, bei der die Musik von Dmitri Schostakowitsch im Zentrum steht. Der Reihentitel lautet "Unter Stalins Schatten". Eine Reminiszenz an die politischen Erfahrungen des Komponisten, der von der sowjetischen Kulturpolitik gleich zweimal heftig kritisiert wurde.
Man traf außerdem eine Absprache über weitere Vertriebsmöglichkeiten für den ständig wachsenden Katalog der Livekonzerte mit Google Play. Als Teil einer exklusiven Gruppe von fünf Orchestern. Die anderen sind: die New Yorker Philharmoniker, das Cleveland Orchestra, das London Symphony Orchestra und das Concertgebouw-Orchester in Amsterdam. Zu Nelsons ersten Aufnahmen gehört aber nicht nur die 10. Sinfonie von Schostakowitsch.
Er spielte auch die etwas gefälligere zweite Sinfonie von Jean Sibelius ein. Auch sie eine Arbeit mit politischen Anklängen. Die Konstellation ist allerdings auch geographisch reizvoll. Nelsons kommt aus Lettland. Vom Sensorium her verwoben mit der musikalischen und politischen Entwicklung dieses Teils Europas. Etwas, was er in Interviews gerne unterstreicht: Er habe nicht die Absicht, seine europäische Herkunft in Boston zu verleugnen, sagt er.
Andris Nelsons übernimmt die Starrolle
Das schafft Profil. Etwas, was vom Management ausdrücklich gewünscht wird, das in Boston mit einem Stiftungskapital von mehr als 400 Millionen Dollar arbeiten kann. Das vermutlich wohlhabende Orchester der Welt will sich zu einer Marke entwickeln – weltweit.
Mark Volpe, der geschäftsführende Direktor:
"Ständiger Wechsel auf dem Dirigentenposten ist nicht gesund. Wir leben in einer Zeit des Personenkults. Da braucht man Star Power. Wir sind eine kulturelle Einrichtung. Aber wir müssen Eintrittskarten verkaufen. Und was Eintrittskarten verkauft, sind berühmte Namen."
Man hat mit Nelsons jemanden verpflichtet, dem man diese Starrolle zutraut. Das deutlichste Zeichen dafür: Anfang August verlängerte das Orchester den Fünf-Jahres-Vertrag gleich um weitere drei Jahre. Und das ehe der neue Musikalische Direktor seine erste komplette Saison abgeliefert hatte.
Es war ein Signal an alle, die bislang den jungen Letten immer wieder gerne bei jeder frei werdenden Stelle in Europas Spitzenorchestern ins Gespräch gebracht hatten. Und der könnte damit die Zeit haben, den kompletten sinfonischen Schostakowitsch einzuspielen. Etwas was bis dahin in den Sternen stand.