Bosnien-Herzegowina

Angst vor einem Bürgerkrieg

22:20 Minuten
An einer schwarzen Hauswand steht in weißer Schrift "Mir", das Wort für Frieden in drei Sprachen: Bosnisch, Kroatisch, Serbisch.
"Frieden" – in allen drei Sprachen: Bosnisch, Kroatisch, Serbisch. Droht in Bosnien-Herzegowina erneut Krieg? © Deutschlandradio / Wolfgang Vichtl
Von Wolfgang Vichtl · 15.12.2021
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Vor fünf Tagen beschloss das Parlament der bosnischen Serben, sich von Bosnien-Herzegowina abzuspalten. Während die Älteren sich noch an den letzten Krieg erinnern und hoch traumatisiert sind, haben die Jüngeren keine Lust, in einen neuen zu ziehen.
Zulejha Keco ist ein Nachkriegskind, 24 Jahre alt, geboren im Jahr zwei nach „Dayton“, dem Abkommen, das den Krieg zwischen bosnischen Serben und Bosniaken beendet hat. Dem Papier, das Basis sein soll für friedliches Zusammenleben – oder zumindest: Nebeneinanderleben – ohne Krieg.
Im Moment hat es der Frieden wieder schwer. Etwas liegt in der Luft, bedrückend, lähmend, wie der dichte Herbstnebel im Kessel von Sarajevo, sagt Zulejha: „Die alten Menschen hier in Sarajevo sind wirklich sehr, sehr besorgt, wie sich die Lage entwickeln wird. Weil es vor 20 Jahren genauso war. Man hat über den Krieg gesprochen, niemand hat daran geglaubt, und dann ist der Krieg passiert. Es riecht gerade so wie vor 20 Jahren.“
Wir sitzen im Café neben dem Nationaltheater in Sarajevo. Zulejha ist Ballerina, im Staatsballett. Sie tanzt auch modern, ist unterwegs mit dem „Balkan Dance Project“, gemeinsam mit Künstlern aus Serbien, Kroatien, Slowenien, Montenegro und der Republik Srpska, dem serbischen Landesteil des jungen Staates Bosnien und Herzegowina, in dem Hass und Hoffnung immer noch aufeinanderprallen, in dem die meisten Menschen immer noch weitgehend nach Herkunft getrennt leben.
Zulejha schwärmt von einem fröhlichen „ex-jugoslawischen Spirit“ in ihrer Tanztruppe. Ethnische Unterschiede? Kein Problem. Gegeneinander kämpfen? Unvorstellbar!
Sie glaubt nicht an einen neuen Krieg. Warum? Wer sollte da hingehen, fragt sie: „Natürlich will ich nicht Teil einer neuen Kriegsgeneration werden, deswegen denke ich, dass der Krieg nicht möglich ist. Ich kann nicht verstehen, wer dafür kämpfen will.“

Früher gab es nur eine Sprache: Serbokroatisch

An die Hauswand gegenüber hat jemand „Mir“ geschrieben, „Frieden“ – in allen drei Sprachen: Bosnisch, Kroatisch, Serbisch. Zweimal in lateinischen Buchstaben, einmal in kyrillischen. Früher war das eine Sprache: Serbokroatisch.
Zulejha hat Germanistik studiert, viele ihrer Freundinnen sind weggezogen, viele nach Deutschland. Sie will aber in Sarajevo bleiben, ihre Familie lebt hier, es gefällt ihr hier. Sarajevo, die gemeinsame Hauptstadt der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republik Srpska, die Stadt war immer stolz auf ihr buntes, multiethnisches Miteinander. Lebendig, sogar im Herbst. Auch wenn Sarajevo dann ein graues Nebelloch ist.
Das Bildnis einer roten Rose, deren Blütenblätter an Blutspritzer erinnern, ist auf Gehwegplatten gezeichnet.
Die "Rosen von Sarajevo" erinnern an Orte, an denen Menschen im Krieg starben.© Deutschlandradio / Wolfgang Vichtl
Die Stadt liegt im Talkessel. Als der drei Jahre dauernde Krieg begann, 1992, wurde ihr diese Lage zum tödlichen Verhängnis. Die bosnischen Serben hatten sich in den Bergen verschanzt, schossen ins Tal, in die Innenstadt, töteten aus sicherer Entfernung.
Heute erinnern die „Rosen von Sarajevo“ an die Orte, an denen Dutzende starben. Die Granateinschläge in der Fußgängerzone, bedeckt mit Blut, hatten Ähnlichkeit mit am Boden zertretenen Rosenblüten. Sie sind jetzt Spuren der Erinnerung. Manchmal bleibt jemand stehen, mitten im Trubel der Fußgängerzone, und liest die Namen der Toten auf der Gedenktafel.

Alle haben immer noch genug vom Krieg

Auch Srdjan Puhalo, 49, will eigentlich bleiben. Er ist aus Banja Luka, Zentrum der Republik Srpska. Eben hat er seine Mutter besucht, auf dem Land, hat Kartoffeln, Zwiebeln im Kofferraum. Beste serbische Bioware, lacht er. Was sonst? Wer hat schon Geld für Kunstdünger? Srdjan ist Sozialpsychologe, Meinungsforscher, wortreich.
Krieg? „Nein“, sagt er sehr überzeugt: Davon hätten alle genug, zu nah noch sind die schrecklichen Erinnerungen: „Nein, nein! Hier kann es keinen Krieg geben. Alle haben noch immer Angst seit dem letzten Krieg. Das posttraumatische Syndrom ist bei allen noch so stark, dass fast niemand einen neuen Krieg haben möchte.“
Porträt von Srdjan Puhalo.
Der Sozialpsychologe Srdjan Puhalo sagt, seine Generation sei noch sehr vom letzten Krieg traumatisiert.© Deutschlandradio / Wolfgang Vichtl
Srdjan gehört zur Kriegsgeneration. Kennt Flucht und Vertreibung, schreibt über die Ursachen, beschreibt die Folgen – denkt an die Zwiebeln seiner Mutter im Kofferraum. Womit sollten wir Krieg führen, fragt er und zählt auf: Wir haben keine Konserven, keine Arzneimittel, wir haben kein Toilettenpapier – was soll das also? Außerdem würden die Menschen, vor allem die jungen, schnell das Land verlassen, bevor sie in einen Krieg ziehen würden. Wenn sie nicht schon weg sind. Genau!
Srdjan Puhalo schießt mit dem Zeigefinger in die Luft – denn: Das ist schon jetzt das Problem: „Noch etwas! Das durchschnittliche Alter der Einwohner in Bosnien-Herzegowina ist 42. Das heißt: Wir sprechen über Diabetes, Ischias, Cholesterin und andere Krankheiten. Dagegen müssen wir kämpfen. Hier gibt es niemanden, der Krieg führen kann.“
Balkan-schwarzer Humor, aber es passt zu dem, was die nur halb so alte Zulejha Keco sagt: Wer noch nicht weg ist, würde Bosnien-Herzegowina spätestens dann verlassen.

Die EU will, dass die Menschen bleiben

Weggehen? Bitte nicht, sagt Christian Schmidt. Der Deutsche, Ex-Verteidigungsstaatssekretär, Ex-Landwirtschaftsminister, CSU, bestens vernetzt auch im Europäischen Parlament, ist seit August der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina, inklusive der Republik Srpska.
Sein Amtssitz in der Hauptstadt Sarajevo ist ein eher hässlicher Zweckbau, verschanzt hinter hohen Mauern, an der ehemaligen Frontlinie zwischen bosnischen Serben und muslimischen Bosniaken.
Auf der Brücke vor dem Hauptquartier des Hohen Repräsentanten starben im April 1992 zwei junge Frauen: eine bosnische Muslimin, 25, und eine Kroatin, 34. Sie wurden von Heckenschützen getötet, die wahllos auf eine Gruppe Demonstrantinnen schossen. Aus bosnischer Sicht war das der Beginn des Krieges. Blumen, eine Metalltafel erinnern an die beiden Frauen.
Eine mit Blumen geschmückte Gedenktafel auf einer Brücke in Sarajevo.
Als Heckenschützen im April 1992 zwei Demonstrantinnen auf einer Brücke töteten, begann für die bosnische Seite der Krieg.© Deutschlandradio / Wolfgang Vichtl
Mit seinen weitreichenden Vollmachten soll Christian Schmidt überwachen, was in Dayton unterschrieben worden ist, damals, nach drei Jahren Krieg. Manche halten ihn aber auch für eine Art „Arbeitsagentur“.
„Ich habe übrigens von manchen Mittelständlern aus Deutschland Anfragen, die sagen: Sie sind doch jetzt in Sarajevo, könnten Sie nicht dafür sorgen, dass junge, gute Leute kommen?“, erzählt er. Nach Deutschland, Schmidt schüttelt den Kopf. Genau das ist nicht sein Job. Schmidt will jungen Menschen wie Zulejha Mut machen, ihre Zukunft in der Zukunft Bosnien-Herzegowinas zu sehen. Also: zu bleiben.
Angst vor Krieg? Wie damals? Versucht Schmidt wegzureden: „Sie müssen keine Angst haben, die internationale Gemeinschaft ist da. Das ist der Unterschied zu den Zeiten von Milosevic.“

Serbenführer Dodik – der neue Milosevic?

Sie geben sich bei Schmidt die Klinke in die Hand: Botschafter, Vertreterinnen der Internationalen Gemeinschaft, zeigen entschlossene Gesichter auf den Handshake-Fotos des Twitter-Accounts des Hohen Repräsentanten. Einige schauen auch bei Milorad Dodik vorbei, dem erbitterten Gegenspieler des Hohen Repräsentanten.
Dodik ist Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina. In Banja Luka residiert er hinter einer sozialistischen Prunkfassade. Er ist der nationalistische Leitwolf im serbisch dominierten Landesteil, manche sehen in ihm eine Art „neuen Milosevic“, das war damals einer der Kriegstreiber.
Porträt von Milorad Dodik.
In Milorad Dodik, Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina, sehen manche einen "neuen Milosevic".© picture alliance / Associated Press
Dodik provoziert in Dauerschleife, will die Republik Srpska von Bosnien-Herzegowina abspalten, unterstützt von Russland und Serbien, toleriert von nationalistischen Kroaten. Der letzte Tiefpunkt: Mit seiner Mehrheit im Parlament des serbischen Landesteils setzte er den Beschluss durch, dem Zentralstaat Bosnien-Herzegowina Kompetenzen zu entziehen, bei Steuern, Justiz, aber auch für die gemeinsame Armee. Eine komplett eigene Armee für den serbischen Landesteil, das wäre die rote Linie.
In relativ langen sechs Monaten sollen die dafür nötigen Gesetze geschrieben sein. Dazwischen wird gewählt. Die Opposition in Banja Luka hatte die Abstimmung boykottiert. Drei Tage nach der Parlamentssitzung verurteilt Christian Schmidt den Beschluss aufs Schärfste, schreibt er.
Die Menschen in Bosnien und Herzegowina wollten eine friedliche Zukunft. Der Beschluss untergrabe das. Er vermisse den Geist des Kompromisses. Dialog, Miteinander reden sei der richtige Weg, so der Hohe Repräsentant.
Zuvor hatten die Botschafter der Internationalen Gemeinschaft, auf deren Rückendeckung der Hohe Repräsentant angewiesen ist, Dodik wissen lassen: Er bewege sich in eine Sackgasse, in der das Dayton-Abkommen infrage gestellt werde.
Das dürfte den Serben Milorad Dodik wenig beeindruckt haben. Ja – er stellt das Dayton-Abkommen infrage. Als Hoher Repräsentant könnte Christian Schmidt Dodik absetzen, die sogenannten „Bonner Vollmachten“ machen es möglich – letztes Mittel.
„Solche Sachen kündigt man nicht an, solche Sachen macht man, wenn es notwendig ist.“ Christian Schmidt setzt erst mal weiter auf Diplomatie.

„Korruption ist Lebensstil geworden“

Es ist eine lange Tagesreise nach Banja Luka, dem Zentrum der Republik Srpska. Eigentlich nur 190 Kilometer von Sarajevo entfernt, trotzdem dauert es dreieinhalb bis vier Autostunden einfach – an der Autobahn wird seit Jahren gebaut.
In Banja Luka hält Tanja Kopic das Fähnchen der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung hoch. Das „System Dodik“ sei Ursache der Probleme in der Republik Srpska, sagt Kopic.
„Korruption ist Lebensstil in Bosnien und Herzegowina geworden, viele haben sich enorm bereichert. Wenn du kein Mitglied der politischen Partei bist, die an der Macht ist, dann bist du verloren. Das ist ein Grund für viele, dass sie die besten Jahre ihrer Zukunft und die ihrer Kinder nicht verspielen möchten.“
Eine Abstimmung mit den Füßen. Früher, sagt Kopic, seien nur die Männer als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen. Jetzt ziehen ganze Familien weg, verkaufen ihre Häuser. Und das heißt: Sie kommen nie mehr zurück. Um ihrer Kinder willen, für die sie keine Zukunft sehen, schon gar nicht in der Republika Srpska.
Bei Milorad Dodik klingt das etwas anders, er lässt „alternative Fakten“ verkünden: Am schönsten sei das Leben doch hier, in der Republik Srpska. Die Dodik-Propaganda wirkt. Obwohl viele hier pendeln, im bosnisch-herzegowinischen Teil des Landes arbeiten – und wissen: Nebenan geht wirtschaftlich mehr voran.

„Wir stehen unter großem Druck"

Kurze Umfrage auf den Straßen Banja Lukas: Wer bereit ist, etwas zu sagen, unterstützt Dodik, trotz allem. Die Republik Srpska sei ruiniert, sagt Miroslav, 40, Manager, und gibt die Schuld der bosniakischen Führung in Sarajevo.
„Man muss begreifen, dass die Republika Srpska ruiniert ist. Die Zuständigkeiten, die sie durch das Daytoner Friedensabkommen bekam, wurden ihr weggenommen. Wir in der Republika Srpska stehen unter großem Druck. Wir haben unsere Autonomie zum großen Teil verloren. Damit kommen wir schwer zurecht“, erklärt er.
„Wir haben geglaubt, dass das ein Ende findet. Aber wir sehen jetzt, dass die bosniakische Führung nicht damit aufhören will. Sie versucht, uns völlig zu entmachten und unsere Selbstständigkeit abzuschaffen. Dodik versucht, diese Autonomie zu erhalten – und deshalb müssen wir ihn unterstützen.“
Es gibt keinen besseren Politiker als Dodik, sagt eine Rentnerin im Vorbeigehen.

Internationale Gemeinschaft machte Dodik groß

Svetlana Cenic nennt Dodik einen Autokraten, den erst die Internationale Gemeinschaft großgemacht habe. Mit gemeinsamen Fotos nach gemeinsamen Gesprächen, mit Subventionen, die im korrupten System Dodik versickern. „Sie gaben so viel Geld, wo sind die Ergebnisse?“ Fragt sie. Die Autobahn von Sarajevo nach Banja Luka sollte längst fertig sein.
„Es geht immer nur ums Geld in Bosnien-Herzegowina. Alles dreht sich ums Geld! Auch um Korruption – und Korruption lebt von Geld. Also, was meinen Sie, macht Dodik da? Warum blockiert er das ganze Land? Wegen des Geldes! Es gibt keine andere Geschichte mehr, die er den Leuten sonst noch verkaufen kann!“
Die braucht er aber. Im nächsten Jahr wird gewählt. Cenic ist Wirtschaftsexpertin, sie war einmal Ministerin in einem der frühen Kabinette Dodiks, zuständig für Finanzen. Parteilos, darauf legt sie Wert.
Sie kennt die Zahlen: „Der Unterschied zwischen der Republik Srspka und der Föderation Bosnien-Herzegowina ist riesig. Zum Beispiel: Ich kann Ihnen sofort eine Liste aufzählen – ohne lang nachzudenken, zehn erfolgreiche Unternehmen auf dem Gebiet der Föderation. Wenn wir in die Republik Srpska gehen, muss ich nachdenken und nachdenken und nachdenken. Mir fällt kein einziges ein.“

„Dieses Dahinsiechen kann jahrelang dauern“

Milorad Dodik erzählt einfach die Geschichten, die serbische Ohren gerne hören, sagt Sdrjan Puhalo. So spiele er das alte nationalistische Spiel. Wie in den 90er Jahren – vor dem Krieg. Um von den wirklichen Problemen abzulenken.
Eine Zermürbungsstrategie: „Dieses Dahinsiechen kann jahrelang dauern. Und das ist meiner Meinung nach das Ziel von Dodik: Alles so sinnlos erscheinen zu lassen, alle Institutionen des gemeinsamen Staats. Damit es die Menschen irgendwann satthaben und darum bitten werden, auseinander gehen zu dürfen. Um endlich ‚normal‘ zu leben, weil das besser so für alle wäre.“
Besser so? Wieder getrennt nach Ethnien zu leben: Serben, Kroaten, Bosniaken.
Und der Hohe Repräsentant? „Ein Tiger ohne Zähne“, sagt Tanja Kopic aus Banja Luka. Ja, sagt Srjan Puhalo, stockt und vergleicht den Deutschen Schmidt mit der deutschen Fußballnationalmannschaft: Die spielen auch oft 90 Minuten und schießen im letzten Moment ein Tor. Vielleicht.
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