Boris Lurie: "Haus von Anita"
Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort von Joachim Kalka
Wallstein-Verlag, Göttingen 2021
298 Seiten, 24 Euro
Sadomasochistische Abhängigkeit als Metapher
06:49 Minuten
Der Holocaust-Überlebende Boris Lurie war der große Provokateur der US-Kunstszene in den 1960er-Jahren. In seinem Roman "Haus von Anita" läuft er mit extremer Leidensästhetik Sturm gegen die westliche Konsumgesellschaft.
"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch". Theodor Adornos berühmter Satz stieß immer auf Widerspruch, er schwächte ihn später selbst ab. Als Metapher für die Abwehr der künstlerischen Darstellung des Holocaust wirkt das Diktum freilich bis heute nach.
Wenn es einen Künstler gibt, der die legendäre Sentenz widerlegen kann, dann ist es vielleicht Boris Lurie. 1924 in Leningrad geboren, floh seine Familie aus der Sowjetunion nach Lettland. Seine Mutter, Schwester, Großmutter und seine Jugendliebe wurden von den Nazis 1941 in Riga ermordet.
Lurie starb, ohne je ein Bild verkauft zu haben
Zusammen mit seinem Vater überlebte Lurie vier Konzentrationslager. 1946 ließ er sich in New York nieder und wurde Künstler.* 2008 starb er im Alter von 83 Jahren, ohne je eines seiner Bilder verkauft zu haben. Eine Stiftung hütet seinen Nachlass.
"Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald", charakterisierte Lurie einmal seine Arbeit. Das erklärt vielleicht, warum er Pin-ups mit Bildern von Leichen aus den Todeslagern collagierte.
Den von den Dadaisten oder dem Montagekünstler John Heartfield inspirierten, schrillen Kampf gegen die "kapitalistische Manipulation der Kultur, die Konsumgesellschaft und andere amerikanische Moloche" machte die von Lurie 1959 mitbegründete Bewegung "No!Art" zu einer Art Vorläufer des Punk.
"Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken"
"Haus von Anita" ist gleichsam das literarische Pendant von Luries ästhetischer Strategie, Genozid und Pornographie visuell zu verzahnen, um die "Banalität des Bösen" zu geißeln. Der Roman spielt in einem Apartmenthaus auf der Upper West Side in New York, in dem sich drei Herrinnen drei geschorene Sklaven und einen Kapo halten.
Diesen Dominas, oder den Gästen des Etablissements, müssen die drei zu Diensten sein. Sie werden sexuell missbraucht, gefoltert oder müssen perverse Spiele über sich ergehen lassen. Nie zweifeln sie jedoch an ihrem Daseinszweck: der "Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken".
Luries Buch ist nicht jugendfrei. Obwohl er sich deren Bildwelt bedient, ist der von Blut-, Sperma- und Exkrementen überquellende Roman aber keine Pornographie.
Metapher für das perfide Vernichtungsystem der Nazis
Das Bild sadomasochistischer Abhängigkeit, das Lurie darin konstruiert, ist eine Metapher für das perfide Vernichtungssystem der Nazis, für die Selbstunterwerfung im Gefängnis des Kapitalismus ebenso wie ein Sinnbild des pervertierten Eros der Zeit.
So wie Lurie das "Haus von Anita" als Mischung aus Bordell und moderner Galerie zeichnet, ist der Roman zugleich eine giftige Persiflage des Kunstsystems. Im Foyer hängt abstrakte Kunst. Bei "Künstlerappellen" inspiziert Herrin Anita die Geschlechtsteile der Eingeladenen statt ihrer Kunst.
Das 2016 erstmals in den USA publizierte Werk komplettiert nun Luries, zu seinen Lebzeiten heftig angefeindetes Oeuvre. Es bleibt aber aktuell. Mag sein Schöpfer auch den Kampf gegen den Abstrakten Expressionismus und die Pop-Art verloren haben, die damals tonangebenden Protagonisten des American Way of Life.
Strukturell sieht die (Kunst-)Welt heute nicht viel anders aus. Den jedes Tabu sprengenden Sturmlauf Luries gegen die andauernde Obszönität aus Kapitalismus, Gewalt und Sexismus, den "Haus von Anita" neuerlich demonstriert, sieht man wahrscheinlich nur einem Überlebenden des Holocaust nach.
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Jahreszahl korrigiert.