Boko Haram

Anhaltende Ungewissheit

In Abuja, Nigeria, erinnern Demonstranten an die Entführung von 270 Schulmädchen in Chibok vor einem Jahr.
In Abuja, Nigeria, erinnern Demonstranten an die Entführung von 270 Schulmädchen in Chibok vor einem Jahr. © picture alliance / dpa /
Von Alexander Göbel |
Vor einem Jahr wurden 270 Schülerinnen im Nordosten Nigerias von der Terrororganisation Boko Haram entführt. Auch wenn die Regierung vollmundig versprach, sie werde die Mädchen zurückbringen: Die Eltern der Mädchen haben die Hoffnung aufgegeben.
Abana Mutha hält seinen kleinen Sohn auf dem Schoß, er lässt ihn nicht mehr aus den Augen. Seit einem Jahr ist er Abana Muthas einziger Halt im Leben, seit die Terrorgruppe Boko Haram seine älteste Tochter entführt hat, aus einem Internat in Chibok, im Nordosten Nigerias. Abana Mutha schaut lange auf das Foto in seiner Hand, es zeigt einen ernsten Teenager in Schuluniform. Den Namen der Tochter will er nicht verraten. Er will die Ermittlungen nicht gefährden – auch wenn er nicht glaubt, dass die Behörden tatsächlich nach ihr suchen.
'"Ich weiß nicht, was ich noch denken oder fühlen soll. Wir hatten unsere Mädchen dem Staat anvertraut, damit sie etwas lernen. Dass Nigeria nicht fähig ist, seine Kinder zu schützen, das ist erschütternd. Und noch schlimmer ist, dass wir noch immer nicht wissen, ob wir sie je wiedersehen.''
Es ist die Nacht vom 14. auf den 15. April vergangenen Jahres: Über 270 Mädchen werden in der Schule von Chibok aus dem Schlaf gerissen und verschleppt. Über 50 von ihnen können fliehen, doch Abana Muthas Tochter bleibt in der Gewalt der Islamisten: Der Vater erkennt die Tochter später auf einem Bekennervideo. Darin zeigt Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau schwarz verschleierte Geiseln und droht, die Mädchen zu verkaufen. Seitdem sind sie verschwunden, und Abana Mutha ist zum qualvollen Warten verdammt. Wie so viele andere Angehörige auch.
"Es ist einfach unfassbar", sagt Aisha Yusufu von der Organisation "Bring back our girls" in Abuja.
"Ich kann einfach nicht glauben, wie wir als nigerianische Nation es zulassen konnten, dass diese Mädchen entführt wurden und bis heute nicht gerettet sind, 365 Tage. Es ist eine Schande. Es bricht mir das Herz, dass das Leben einfach so weitergeht, während die Mädchen in den Händen von Terroristen sind.''
Weltweite Solidarität
Das Schicksal der Mädchen von Chibok hat die Welt bewegt. Der Twitter-Hashtag "#bringbackourgirls" machte im Internet die Runde, sogar die US-amerikanische First Lady Michelle Obama posierte mit einem Schild, auf dem sie forderte: "Bringt die Mädchen zurück". Noch immer demonstrieren in Nigeria Aktivisten für ihre Freilassung, in dieser Woche gibt es überall im Land Gedenkveranstaltungen und Schweigemärsche.
Nigerias Behörden scheint das alles wenig zu beeindrucken – schon seit 365 Tagen. So lange schon haben die bisherige Regierung und der scheidende Präsident Goodluck Jonathan die Menschen mit Durchhalteparolen vertröstet. Vollmundig wurde verkündet, die Armee wisse, wo sich die Mädchen befinden, man verhandle mit den Geiselnehmern. Schnell war klar: alles Lüge.
Viele Nigerianer setzen große Hoffnungen in den neuen Präsidenten Muhammadu Buhari.
Viele Nigerianer setzen große Hoffnungen in den neuen Präsidenten Muhammadu Buhari. © picture alliance / dpa
Deswegen hoffen jetzt viele Menschen auf den neuen Präsidenten, der Ende Mai das Ruder übernimmt: Auf Muhammadu Buhari, dem Ex-General, dem Muslim aus dem Norden, ruhen große Erwartungen. Auch die von Oby Ezekwesili, Organisator von "#bringbackourgirls":
"Der neu gewählte Präsident sollte einen Vertrauensvorschuss bekommen. Muhammadu Buhari hat schon im Wahlkampf angekündigt, dass er das Drama der Chibok-Mädchen zur Chefsache machen will. Wir hoffen, dass er entsprechend handeln wird.''
Die Spur hat sich verloren
Vielleicht ist es dafür schon zu spät. Die Spur der Mädchen hat sich im riesigen, schwer zugänglichen Sambisa-Wald verloren, der mutmaßlichen Hochburg von Boko Haram, nahe der kamerunischen Grenze. Eine junge Frau, die selbst den Entführern entkommen ist, will die Mädchen noch im Dezember in der Ortschaft Gwoza gesehen haben – sie seien in schlechter körperlicher Verfassung gewesen, mit Kämpfern zwangsverheiratet, zum Teil schwanger.
Die Vereinten Nationen befürchten das Schlimmste: Die Dschihadisten könnten die Mädchen inzwischen getötet haben. Die Schülerinnen könnten zur Last geworden sein, auf der Flucht vor tschadischen und nigerianischen Truppen. Im Bundesstaat Borno seien entsprechende Massengräber entdeckt worden – so wird UNO-Menschenrechtskommissar Al-Hussein in nigerianischen Zeitungen zitiert. Bestätigt ist gar nichts, die Ungewissheit quält die Angehörigen weiter.
"Manchmal denke ich, es wäre besser, die Behörden würden die Kinder tatsächlich offiziell für tot erklären" – sagt Abana Mutha, der verzweifelte und völlig erschöpfte Vater eines Chibok-Mädchens.
"Dann könnten wir sie beerdigen und Abschied nehmen. Ja, manchmal denke ich so. Ich schäme mich dafür – aber ich habe kaum noch Kraft, um weiter zu hoffen. Ich will nicht aufgeben, aber endlich trauern zu dürfen wäre besser, als ständig weiter enttäuscht zu werden.''
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