Bokel in Schleswig-Holstein

Wie Zirkuswagen neues Leben in ein Dorf bringen

08:00 Minuten
Ein Zirkuswagen steht zwischen Bäumen auf einer Wiese.
Das Dorf Bokel in Schleswig-Holstein zieht Zirkuswagen an: Mehr als 50 Exemplare stehen über das kleine Dorf verteilt. Die Wagen und ihre Bewohner brachten frischen Wind in den Ort. © imago / Mario Aurich
Von Johannes Kulms · 15.06.2020
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In den 80er-Jahren zogen Langhaarige mit ihren Zirkuswagen in das 600-Seelen-Dorf Bokel in Schleswig-Holstein. Dorfbewohner und Zugezogene lernten sich immer besser kennen - und zeigen inzwischen, wie unterschiedliche Kulturen gut zusammenleben können.
Seit 2013 ist Ralf Horstmann Bürgermeister von Bokel. Das 600-Einwohner-Dorf habe etwas Einmaliges, findet der 57-jährige Landwirt. Denn die Menschen hätten hier einen ganz besonderen Umgang miteinander gefunden.
"Über Jahre hat sich da auch was verändert, ist man offener geworden."
"Warum?"
"Natürlich durch den Zuzug unserer Neubürger, die sich ins Dorfleben eingebracht haben. Und so denn auch uns eine andere Kultur beschert haben mit. Sonst hatte man doch so eher seine eingefahrene Schiene. Und seinen eingefahrenen Bekanntenkreis. Und so ist das alles ein bisschen offener geworden und wir durften alle voneinander lernen."

"Viele, viele skurrile Dinge"

Diese Entwicklung war nicht zu erwarten als in den 80er-Jahren ein paar Menschen in das Dorf in der Mitte Schleswig-Holsteins zogen. Mit ihren langen Haaren sahen sie etwas anders aus als die "Urbevölkerung". Möglicherweise hatten sie hier und da auch andere Sachen im Kopf.
Thomas Jaspert steht mit langen lockigen Haaren vor einem seiner Zirkurswagen.
Thomas Jaspert vor einem seiner Zirkurswagen. Anfangs waren die Dorfbewohner misstrauisch. © Deutschlandradio / Johannes Kulms
Einer von ihnen ist Thomas Jaspert, der damals seine Heimat in Nordrhein-Westfalen verlassen hatte, um in Kiel Biologie und Botanik zu studieren und einfach nicht in der Stadt wohnen wollte.
"Ich kann mich an nur skurrile Dinge erinnern, das waren viele, viele skurrile Dinge. Ich bin hierhin gekommen durch eine Annonce, die hieß: ‚Suche rüstigen Rentner für Stallarbeit, kleines Haus wird gestellt.‘ Und ich habe mich da mit 22 hier vorgestellt, bin dann in der Landwirtschaft angefangen und habe dann sieben Jahre bei einem Bauern alles mögliche gemacht, von melken bis füttern. Und bin umgezogen zu einem anderen Bauern und habe da nochmal fünf Jahre gearbeitet."

Die Revoulution kam still und leise

Irgendwann fing Thomas Jaspert mit den Kunstprojekten an und fragte die Bokeler Landwirte, ob er die eine oder andere Skulptur auf die Koppel stellen dürfte.
"Und am Ende sagte der Landwirt dann zu mir: ‚Ick neeehm twei!‘, völlig einfach, also eine klare, deutlich einfache Sprache. Und die habe ich dann einfach für mich schätzen gelernt, und so ist der Umgangston in Bokel eigentlich auch."
Die Revolution, scheint eher still und leise in die schleswig-holsteinische Provinz gekommen zu sein als mit viel Wumms. Auch die vielen Zirkuswagen kamen nicht auf einen Schlag, sondern nach und nach. Inzwischen seien es 53, sagt der 57-jährige. Die meisten haben er und Ulli Dücker hierhergebracht. Dücker ist Tischler und kam fast zur gleichen Zeit in den 80er-Jahren nach Bokel.

Zirkuswagen im Dorf verteilt

Die beiden Freunde haben die Wagen aufwendig aufgearbeitet. In manchen auf das Dorf verteilten Fahrzeugen wohnen Leute ein paar Monate, in anderen schon seit Jahren. Die Wände der Wagen sind aus Holz. Viele von ihnen zogen früher wirklich mal mit Zirkustruppen durch die Lande, andere sehen aus wie frühere Bauwagen.
Irgendwann kam Thomas Jaspert auf die Idee, die Wagen an Urlauber zu vermieten. Inzwischen sind zwei "Hotels" aus Wagen entstanden. Die Vermietung läuft ziemlich rund. Die alte Mühle, in der Jaspert wohnt, liegt mitten in Bokel. Hinten im Garten stehen sechs Wagen zum Übernachten zu einem Halbkreis zusammengestellt. Auch einen Saunawagen gibt es, dazu kommen eine Küche und Badezimmer. Bei seinem Mitstreiter im Hotel "Ulliwood" etwas mehr am Dorfrand sind sieben Wagen zu vermieten. Der Aufenthalt in einem der beiden Hotels dürfte wohl eher an die Stimmung in einer großen bunt zusammengewürfelten Land-WG erinnern als an einen normalen Campingplatz.

Den Wagen verschenkt statt angezündet

Vielleicht auch, weil viele Wagen hier im Dorf ihre ganz eigene Geschichte haben, erzählt Thomas Jaspert. So wie der Wagen aus den 1930er-Jahren, der mit dem DDR-Staatszirkus umhertingelte und später auf einem Hof in Schleswig-Holstein landete. Dort wohnte Onkel Albert, erinnert sich Jaspert.
"Und als ich auf den Hof fuhr, kam er gerade mit zwei Benzinkanistern über den Hof geschlunkert. Ging dann in diesen Wagen rein, ich bin dann hinter ihm her, weil ich dachte, das wird wohl der Inhaber der ganzen Sache sein! Und als ich hier drin war, fing Albert an, die beiden Benzinkanister in diesem Wagen auszukippen. Und mit Streichhölzern zu hantieren. Und daraufhin habe ich ihn angesprochen und gefragt, was passiert denn jetzt hier? Und er hatte gesagt, er hatte den Wagen nach der Wende rüber geholt, hat ihn aufwendig restauriert und jetzt seiner Frau geschenkt. Und die hat ihm gerade den Schlüssel an den Kopf geschmissen und hat gesagt, sie möchte den Wagen doch nicht haben. Und hat das ganze Geld versenkt!"
Jaspert schlug Onkel Albert daraufhin vor, ihm den Wagen abzukaufen anstatt ihn anzuzünden. Am Ende bekam er ihn geschenkt.

Minimalismus für Großstadtmenschen

35 Euro kostet die Übernachtung pro Person. Die Wagen sind nicht luxuriös aber gemütlich. Vielen gestressten Großstadtmenschen tut der Minimalismus im Inneren der Fahrzeuge offenbar gut. Jaspert und sein "Neubürger"-Kollege Ulli Dücker konnten in den 80er-Jahren noch nicht ahnen, dass der Verzicht und das Leben auf wenig Raum einmal so populär werden würde wie jetzt in Zeiten der Tiny Houses.
Mehrere Zirkuswagen mit einer Treppe davor.
Das Zirkuswagen-Hotel im Garten von Thomas Jaspert: Minimalismus für Großstadtmenschen© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Wegen der Corona-Pandemie waren die Bokeler Zirkuswagen über zwei Monate nicht zu vermieten. Nun sind sie wieder buchbar. Vor einem der Wagen sitzt mit einem Buch Martin Jahren aus Aurich, der einfach nur froh ist, hier Urlaub zu machen.
"Super! Wir fühlen uns hier sehr, sehr wohl. Das ist einfach nur ganz urig. Ja, eigentlich genauso, wie wir uns das vorgestellt haben. Das ist sehr naturnah, sehr durchdacht. Und für uns perfekt!"
Nur ein paar Schritte von hier hat Thomas Jaspert seine Werkstatt, alles wirkt riesig und ein bisschen auch wie ein Abenteuerspielplatz für einen Menschen, der nur das enge Wohnen aus der Stadt kennt. Hinter der Werkstatt liegt ein Ausstellungsraum, in dem beeindruckende Holzskulpturen stehen. In erster Linie sieht Jaspert sich nicht als Zirkuswagenrestaurator und -vermieter, sondern als Bildhauer. Doch obwohl er sich ständig vornimmt, mehr Zeit für seine Kunst einzuplanen, kommen ständig neue Ideen und Projekte dazwischen.

Pflanzenarche für die Zeit nach Glyphosat

Ein ganz großes Ding ist das Kailand. Es ist eine 16 Hektar große Fläche in Bokel, die er vor einigen Jahren zusammen mit Ulli einem Bauern abgekauft hat. Die Einnahmen aus der Zirkuswagenvermietung dienen auch der Finanzierung des Kailands.
Das Gelände steht nicht nur der menschlichen Dorfbevölkerung offen. Sondern genauso allen Pflanzen und Tieren. Wir laufen an einem Waldstück vorbei mit Nadelbäumen und Eichen.
"Wir hatten das ja auch davor ganz lange mit einer ganzen Gruppe gepachtet. Und die Idee war immer, dass wir ein Stück Land ohne Glyphosat, ohne Düngung, ohne alles erhalten. Und versuchen hier so eine Art kleine Pflanzenarche hinzubekommen. Das heißt, die regionalen Arten, die es hier früher überall gab, zu erhalten. Und sobald irgendwie mal der Einsatz von Glyphosat beendet wird, können dann auch wieder von hier aus Pflanzen starten und wiederbesiedeln."
Thomas Jaspert steht auf einem Holzsteg in einer renaturierten Landschaft mit einem See im Hintergrund.
Unterwegs im "Kailand". Die renaturierte Fläche steht allen Pflanzen, Tieren und Menschen offen. © Deutschlandradio / Johannes Kulms
Auf einer großen freien Fläche wurden in den letzten Jahren mehrere kleine Seen angelegt. Von einem kleinen Holzsteg über das Gelände kann man aus unmittelbarer Nähe dicke Frösche im Wasser beobachten, sich von umherkreisenden Libellen hypnotisieren lassen oder eine kapitale Ringelnatter am Wegesrand bestaunen.
Bokel scheint offen für solche Ideen und Impulse von außen. Doch der Platz für weitere Projekte sei begrenzt, sagt Jaspert.
"Also, nachdem der NDR einen Film über uns gedreht hatte, war es natürlich so, dass wir hunderte von Anfragen hatten, die hier hinziehen wollen. Aber wir sind uns eigentlich alle ziemlich einig darüber, dass das Dorf einfach nicht mehr Leute aufnehmen kann. Da ist nicht mehr Platz."

Die Kunst des Kompromisses

Seit vielen Jahren sitzt Jaspert für die SPD im Dorfgemeinschaftsrat von Bokel. Dadurch ist im Laufe der Zeit eine enge Freundschaft zu Ralf Horstmann entstanden, der seit 2013 Bürgermeister in Bokel ist.
"Da sind wir des öfteren mal aneinander geraten. Das ist ja auch kein Geheimnis, das gehört ja in der Demokratie dazu. Ja und da hat man natürlich auch die Meinung des anderen zu schätzen gelernt. Dass man Dinge auch noch aus einer anderen Sicht sehen kann. Nur so kann man ja auch zusammen kommen. Dass man in der Mitte einen Weg gemeinsam baut, ist ja vielleicht auch eine Kunst."
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