Blut, Grausamkeit und Schrecken - wohl dosiert

Von Frieder Reininghaus · 15.06.2009
Der kanadische Regisseur Robert Carsen hat in den letzten zwei Jahrzehnten europaweit mit verschiedenen Bühnen- und Kostümbildnern eine stolze Zahl von Opern realisiert, fast alle Werke des "Kern-Repertoires" (und viele dieser Produktionen wurden, mitunter im Varianten, an verschiedenen Häusern präsentiert). Man mag sich wundern, dass da nicht längst "Carmen" mit von der Partie war. Doch hat <em>de nederlandse opera</em> mit der berühmtesten Arbeit von Georges Bizet wohl tatsächlich etwas Neues zu Wege gebracht - auf höchstem Niveau.
Marc Albrecht entlockt dem Koninklijk Concertgebouworkest eine eher elegant als drastisch angelegte Interpretation, prozessierte auch feine Nuancen heraus, ohne den Fluss und Drive der Bizetschen Nummern auch nur einen Moment zu zerzieseln. Die bukolischen Klänge zu Beginn des Schmuggler-Ausflugs in die Berge war von ausgesuchtester Delikatesse und selbst zum emotional so heftigen Ende stellte sich keine allzu grelle Drastik oder gar Brutalität ein.

Gesungen wurde die Partie des in Liebe, dann in Eifersucht, Verzweiflung und das emotionale Nichts fallenden Sergeanten Don José von Yonghoon Lee, sichtlich einem Fremdenlegionär, mit leicht geführtem Tenor; sehr schön gelingt die Darstellung seines Zauderns und der Selbstzweifel an seiner Männlichkeit.

Die Carmen hingegen strotzt vor Weiblichkeit (oder, genauer gesagt, vor den virtuos gespielten Klischees dessen, was traditionell mit dem "Feurigen" einer solchen "Zigeunerin" assoziiert wurde). Nadia Krasteva, zuerst betont langhaarig und -beinig aufgeboten, besticht auch mit dem leicht verruchten Mezzo-Timbre einer Frau, die das Leben schon ziemlich früh ziemlich gründlich kennenlernen durfte.

Kyle Ketelsen gibt, stimmsicher, den Escamillo als jenen narzisstischen Selbstdarsteller, der er nun einmal zu sein hat - und auch hier ist die ironische Brechung der Personenführung kaum zu übersehen. Genia Kühmeier schließlich kommt mit schlichtem schönen Sopran als Salzburger Ländlerin und wie ein Fremdkörper aus einer pummelig-idyllisch gebliebenen Welt aus der Höhe herunter in die gesellschaftlichen Niederungen des Tieflands.

Für die stellte Michael Levine eine Sand-Arena bereit, die für die verschiedenen Situationen zurechtgerichtet wird. Dahinter die Tribüne einer Stierkampfarena, Block C bis E, mit etwa vierhundert Plastikschalensitzen. Aus den neun Sitzreihen treten anfangs die Frauen nach unten und präsentieren sich: an einer jeden von ihnen scheint eine Carmen verlorengegangen zu sein - und nur eine kann die wahre Carmen sein. Nadia Krasteva ist es - und wie sie raucht! Wie sie die Hüften schwingt und die Hand schwenkt.

In der Arena kleiden sich die Männer coram publico (und in jedem steckt ein Don José!) zu Soldaten um, da tummelt sich der Kinderchor, machen die Arbeiterinnen der Zigarrenfabrik quickes Päuschen und wird Carmen gefesselt (aber von Don José auch wieder laufen gelassen, was dem Verhängnis die Bahn bereitet).

Tiefgehängte Lampen machen das weite Halbrund zur Spelunke des Lillas Pastia, einzelne herausgenommene Sitze die ansteigende Zuschauertribüne zur Gebirgslandschaft, in der sich die Schmuggler mit schweren Kisten abmühen und an Lagerfeuern wärmen. In der am Ende hell erleuchteten Arena feiert der nun mit Carmen verbundene Escamillo seinen Triumph (mit zwei Ohren des Toros kommt er schließlich herein). In derselben Arena, bei jeweils stark gedimmtem Licht, besiegelt Don José das Schicksal der freiheitsdurstigen Carmen und sein eigenes dazu. Robert Carsen hat es in jeder Hinsicht brillant theatralisiert.

Einem unlängst in Berlin verstorbenen Regisseur wurde in einem der umsichtigsten Nachrufe attestiert, er habe "aufrichtiges Theater" gemacht, auch wenn dieses die Kundschaft in schöner Regelmäßigkeit polarisiert und die eine Hälfte angewidert habe.

Robert Carsen hingegen dosiert Blut, Grausamkeit und Schrecken so, dass seine in klare Rahmen gerückten Produktionen weithin Konsens finden und auf verblüffend einfache Weise überzeugen, dabei aber mit feineren ironischen Brechungen operieren und das Deutsch-Berserkerhafte meiden wie der Teufel das Weihwasser. Vielleicht macht er deshalb im Sinn der Berliner Theaterkritik kein aufrichtiges, dafür aber richtiges Theater.

George Bizet: Carmen
De Nederlandse Opera Amsterdam
Inszenierung: Robert Carsen
Musikalische Leitung: Marc Albrecht
Darsteller:
Yonghoon Lee (Don José)
Nadia Krasteva (Carmen)
Kyle Ketelsen (Escamillo)
Mehr zum Thema