Biologiemodellmacher in Sonneberg

Körperteile, die verblüffend echt aussehen

Cindy Mönch fertigt ein männliches Becken.
Ein männliches Becken zu fertigen, dauert etwa 30 Stunden. © Deutschlandradio / Henry Bernhard
Von Henry Bernhard · 08.05.2018
Skelette, Organe oder Blutgefäße - wer den menschlichen Körper studieren will, braucht Anschauungsmaterial. Und die besten Modelle der Welt werden angeblich in Sonneberg gefertigt. Eine kleine Branche mit Tradition und Zukunft.
Das Zahnarzt-Geräusch hört Marion Kramp schon länger. Über ihrem Arbeitsplatz hängt eine Urkunde für 25-jährige Betriebszugehörigkeit. In der rechten Hand hält sie ein kleines Schleifgerät, in der linken ein weißes Stück Plastik, so groß wie ein kleiner Daumen. Ein Gussteil, das sie vom überstehenden Grat befreit.
Reporter: "Was machen sie gerade hier?"
Marion Kramp: "Ich mache jetzt einen Fuß; das ist die große Fußzehe hier."
Reporter: "Ach, immer in einem Beutel ist ein ganzer Fuß."
Marion Kramp: "Ja. Und das ist der Knochen hinten dran."
Vor ihr liegt ein Plastikbeutel mit vielen weißen Teilen darin: Jeweils fünf Zehen, die aus mehreren Teilen bestehen, der Mittelfußknochen, das Würfelbein und am größten: das Fersenbein. Nur eben alles aus Plastik. Sie werden einmal Teil eines Modells vom menschlichen Skelett sein: für eine Schule, eine Universität, eine Arztpraxis.
Beschäftigte bei Somso fertigen Modelle.
Auch Modelle von Äpfeln oder Birnen werden in Sonneberg hergestellt.© Deutschlandradio / Henry Bernhard
Reporter: "Machen sie immer das Gleiche oder kriegen sie jeden Tag was anderes hier?"
Marion Kramp: "Also, sie sehen ja hier, was wir so stehen haben."
Sie zeigt auf Beutel voller Teile für Füße und Hände.
Marion Kramp: "Und ansonsten machen wir Schädel."
Reporter: "Und was ist das hier?"
Marion Kramp: "Das sind Kreuzbeine."

Der Modellbau begann schon 1876

Der Raum ist etwas stickig und vom diffusen Summen und Brummen gefüllt. Etwa zehn Frauen arbeiten hier im Sonneberger Teil der Firma Somso. Gegossen werden die Teile im benachbarten Coburg. Begonnen aber hat alles 1876 hier in diesem dreistöckigen Eckhaus mitten in der Stadt Sonneberg. Der Gründer Marcus Sommer stellte hier anatomische Modelle aus Papiermaché her. Das Geschäftsmodell ist seit 142 Jahren das Gleiche geblieben:
Günther Volk: "Die Genauigkeit! Unser Slogan ist ja: ‚Die Natur ist unser Vorbild.‘ Und danach fertigen wir unsere Modelle."
Günther Volk führt durchs Haus: Er hat 1959 seine Lehre hier angefangen, als Biologiemodellmacher. Seit 59 Jahren arbeitet er hier, inzwischen nur noch halbtags, als technischer Leiter des Sonneberger Betriebsteils. Er führt vorbei an lebensgroßen Modellen von menschlichen Körpern, ganzen und aufgeschnittenen, an geöffneten Schädeln und einer grauen Raucherlunge, an katzengroßen Modellen von mächtigen Stieren und einem Pferdefuß, an Blütenmodellen groß wie ein Kopf und an täuschend echten Äpfeln mit poetischen Namen: Geflammter Kardinal, Ausbacher Roter, Morgenduft, Tiroler Spitzlederer. Über 100 Sorten liegen hinter Glas, aus Papiermaché, bemalt, mit Wachs überzogen und täuschend echt aussehend.
Günther Volk: "Da können sie mal so einen Apfel anfassen."
Reporter: "Der ist echt!"
Günther Volk: "Wie ein echter Apfel!"
Reporter: "Ich beiß‘ jetzt rein!"
Günther Volk: "Ja, deshalb ist er unter Verschluss, weil Kinder das schon fertig gebracht haben."

60 Prozent der Produktion gehen ins Ausland

So schön sie sind – die Äpfel sind nur Nebengeschäft. Bei 3000 verschiedenen Modellen wird nicht jedes jedes Jahr verkauft – andere dafür hundertfach. Im Malsaal unterm Dach erklärt die Vorarbeiterin Carola Behrens, was diese Woche ansteht.
Carola Behrens: "Ja, es sind Muskelmänner, Becken, Ohren, Katzen, Kehlköpfe, Äpfel und Birnen."
Direkt am Fenster sitzt Cindy Mönch vor fünf Modellen. Sie sehen schon ziemlich fertig aus: mit rostroten Muskeln, blauen und roten Blutgefäßen.
Cindy Mönch: "Ein männliches Becken!"
Reporter: "Und was malen sie da gerade an?"
Cindy Mönch: "Das ist die Vene, Venen male ich gerade, Blutgefäße halt."
Mit unglaublich feinen Pinselstrichen entsteht das Modell des Inneren eines Mannes. Mit Nieren, Prostata, Hoden, Penis. Anschauungsmaterial für das Medizinstudium. Irgendwo in der Welt. Somso exportiert 60 Prozent der Fertigung, weltweit.
Reporter: "Wie lange braucht man für so ein Becken?"
Cindy Mönch: "Das kriegt man nicht an einem Tag fertig. Fünf Stück – knapp eine Woche, 30 Stunden bei mir."
Reporter: "Und nach den Männerbecken – was kommt dann?"
Cindy Mönch: "Also, es ist immer in der Bemühung, dass es unterschiedliche Modelle gibt. Die Serie fertig, und dann kriegst du halt ein anderes Modell – hier zum Beispiel Mägen."
Reporter: "Die Mägen sehen noch einheitlich hautfarben aus."

Eine Berufsschulklasse mit drei Schülerinnen

Zwei Kilometer weiter, in der Berufsschule. Die Biologielehrerin Christine Roß wuchtet einen menschlichen Torso auf den Tisch und nimmt einige Teile heraus: Magen, Speiseröhre, Darm. Vor ihr ihre Klasse, das zweite Lehrjahr der Biologiemodellmacher. Saskia, Natalie und Tina.
Christine Roß: "Das ist z.B. hier auch die Bauchspeicheldrüse als Drüsengewebe. Wie kommen wir denn vom Mund in den Magen?"
Saskia Lindner: "Durch die Speiseröhre."
Christine Roß: "OK. Und der Magen, wenn ihr euch den mal anschaut, wie ist der gebaut?"
Saskia Lindner: "So bohnenf …"
Christine Roß: "Ja, wie eine sackförmige Ausstülpung."
Saskia Lindner: "Der Magen ist auf jeden Fall ein Muskel. Und der Nahrungsbrei wird dadurch eben verdaut und gequillt und gewelgert. Das hört sich blöd an!"
Christine Roß: "Gewelgert ist ein typischer südthüringer oder oberfränkischer Begriff für durchkneten. Welgern. Also, es paßt schon da."
Die Biologielehrerin Christine Roß mit Ihrer Biologie-Modellmacher-Klasse: Saskia Lindner, Natalie Lehman, Tina Schreck
Die Biologielehrerin Christine Roß mit Ihrer Biologie-Modellmacher-Klasse: Saskia Lindner, Natalie Lehman, Tina Schreck. Nach der Ausbildung werden alle drei übernommen.© Deutschlandradio / Henry Bernhard
Es ist eine lustige, entspannte Runde. Die drei Mädchen sind die gesamte Berufsschulklasse. Es gab auch schon eine Klasse mit nur einer Schülerin. Ihren Beruf kann man auch nur hier, in Sonneberg, erlernen. Und nur die allgemeinen Fächer, wie Mathe, Sport oder Deutsch, belegen sie mit anderen Berufsschülern gemeinsam. Sie finden es gut.
Natalie Lehmann: "Wenn ein Schüler jetzt z.B. ein Problem in einem Fach hat, kann der Lehrer auch spezifisch auf ihn eingehen, was in einer größeren Klasse jetzt nicht machbar wäre."
Tina Schreck: "Es ist wirklich oft angenehm, weil man halt auch mal den Unterricht mal abändern kann, dass man nicht immer straffes Programm hat, was in einer großen Klasse eigentlich immer so ist."

Die besten Modelle der Welt

Zurück am Stammsitz der Firma Somso, wo traditionsgemäß alle drei Mädels nach ihrer Ausbildung übernommen werden sollen. Günther Volk zeigt das firmeneigene Museum, bleibt bei vielen Modellen stehen, referiert über die Lebensbedingungen der Pfeilgiftfrösche, über die Anatomie des Gorillas, über Zahnkrankheiten beim Menschen und die Maul- und Klauenseuche bei Rindern, über Bandwürmer und Herzchirurgie.
Günther Volk: "Ein Herz kann man wirklich dann total zerlegen. Ob das das Reizleitungssystem im Herzen ist oder die verschiedenen Gefäße, die Segelklappen, die halbmondförmigen Klappen, was alles drin ist. Die werden ja oft ausgewechselt beim Menschen, die hier. Das ist die Arterie und die Vene, die beiden. Die sind schwieriger zu wechseln, die Segelklappen, sagt man, weil die müssen ja irgendwie verbunden werden. Aber die gehen verhältnismäßig einfach."
Und solange sie die besten Modelle der Welt bauten, bräuchten sich werde er noch die Auszubildenden Sorgen um die Zukunft zu machen.
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