Biografie

Kriegserinnerungen einer 15-Jährigen

Die 2011 verstorbene Schrifstellerin Christa Wolf
Die 2011 verstorbene Schrifstellerin Christa Wolf © picture alliance / dpa / Foto: Tim Brakemeier
Von Michael Opitz  · 02.06.2014
Als sowjetische Truppen 1945 immer näher an Landsberg an der Warthe rücken, bereiten die Eltern von Christa Wolf die Flucht vor. Sie erlebt, wie das Führer-Bild verbrannt wird - und Wahrheiten über Nacht die Bedeutung verlieren.
Ein entschiedenes "Nein" steht am Anfang von Christa Wolfs 1971 entstandener Erzählung "Nachruf auf Lebende. Die Flucht", die im Nachlass der 2011 verstorbenen Autorin gefunden wurde. Mit dem ersten Satz erhebt die Erzählerin Einspruch: "Nein, so ist es nicht gewesen." Was sich an jenem Januartag des Jahres 1945 tatsächlich ereignete, als die Eltern der fünfzehnjährigen Christa Wolf die Flucht vor den heranrückenden sowjetischen Streitkräften vorbereiteten, wollte sie der Familie später erzählen. Deshalb prägte sie sich alles genau ein und wollte nicht vergessen, wo das in Öl gemalte Bild des Führers verbrannt wurde.
Verklärung der Vergangenheit
In Erinnerung blieb ihr auch, dass ihre Mutter nicht in das bereitstehende Fluchtauto einstieg und die Kinder allein fahren ließ. "Sie blieb und bewies sich, daß ihr Leben kein Fehlschlag gewesen" war. Während Eltern und Verwandte die schreckliche Gegenwart vergessen wollten und die Vergangenheit verklärten, beobachtete sie, was sich unmittelbar ereignete.
Die eigentliche Leserin, an die Christa Wolf dachte, als sie aufschrieb, was mit diesem Fluchttag in Verbindung stand, existierte nach dem Tod ihrer 1968 verstorbenen Mutter nicht mehr. Sie ist neben der Erzählerin in "Nachruf auf Lebende" die zentrale Figur. "Weitausholender" und dabei "verschiedene Zeitebenen" miteinander verbindend – so Gerhard Wolf in seinem Nachwort –, erzählt Christa Wolf von dieser Zeit in ihrem Roman "Kindheitsmuster". Warum dann diese Erzählung?
Erinnerung an die Kriegszeit
Im "Nachruf" erinnert sich eine 15-Jährige an die Kriegszeit, die dadurch in einem anderen Licht erscheint. Von einem Tag auf den anderen wird sie Zeugin, wie in die Bedeutungslosigkeit versinkt, was bis dahin unumstößliche Wahrheit war. Damals verwarfen die Erwachsenen die eigenen, und die den Kindern vermittelten Ideale. Vielleicht prägten sich die Ereignisse dem heranwachsenden Mädchen gerade deshalb so genau ein, weil sie mit der untergehenden Ideologie noch nicht fertig war. Das ist die eine Ebene dieser präzisen und atmosphärisch dichten Erzählung.
Aber eine überraschende Aktualität besitzt der Text darüber hinaus. Christa Wolf erzählt von Mutter-Tochter-Konflikten, die sehr gegenwärtig anmuten. So antwortete die Fünfjährige, nachdem ihr von einem Arzt eine Perle aus der Nase entfernt wurde, der Mutter, die droht, ihr alle Perlen wegzunehmen: "Mach doch, dann besorg ich mir neue." Sie widerspricht, ist störrisch und ein unangepasster Dickschädel.
Die Kinder verschonen die Eltern
Sie klaut Konfekt aus dem elterlichen Laden und die Frage, als sie beim Naschen erwischt wird: "Du willst doch nicht etwa ein Genußmensch werden?", erreicht sie aus einer anderen Welt. Als sie lernt, sich als ein unverwechselbares "Ich" zu begreifen, lässt sie den Eltern gegenüber kindlichen Großmut walten, wenn sie überlegt, dass es doch seltsam ist, dass die Eltern nicht merken, wie sie von den eigenen Kindern geschont werden: "Es lag in meiner Hand weiterhin das liebe Kind zu spielen und die Lust am Gehorchen auszukosten oder aber böse und verwandelt zu sein."
Gerade in diesen Passagen, in denen Christa Wolf über sich als Heranwachsende spricht, beweist sie eine Fähigkeit, die an ihren Texten häufig, allerdings zu unrecht, vermisst wird: Humor.

Christa Wolf: "Nachruf auf Lebende. Die Flucht"
Mit einem Nachwort von Gerhard Wolf
Suhrkamp, Berlin, 2014
105 Seiten, 12,00 Euro

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