Gennady Gorelik: Andrej Sacharow - Ein Leben für Wissenschaft und Freiheit
Aus dem Russischen übersetzt von Helmut Rotter
Birkhäuser bei Springer Verlag, Heidelberg-Berlin 2013
489 Seiten, 49,95 Euro, auch als E-Book erhältlich
Einzigartige Karriere als Atomphysiker

Er fasziniert als ausgezeichneter Atomphysiker und geächteter Kämpfer für die Menschenrechte: Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Spannend: Seine Rolle beim Rüstungswettlauf zwischen USA und Sowjetunion, nachzulesen in der Biografie von Gennady Gorelik.
Der ausgebildete Physiker hat sich auch als Historiker einen Namen gemacht. Gennady Gorelik schrieb mehrere Biografien russischer Physiker des 20. Jahrhunderts, darunter etwa die Matvej Bronsteins und Lev Landaus.
An Andrej Sacharow faszinieren ihn vor allem zwei Dinge: zum einen dessen einzigartige Karriere als Atomphysiker - so wurde er im Alter von erst 32 Jahren Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften und hatte exzellente Kontakte zu den Kremlherrschern; zum anderen die Frage, wie es dazu kam, dass sich dieser privilegierte, mit den höchsten sowjetischen Orden geehrte Kernphysiker zu einem international geachteten Kämpfer für die Menschenrechte wandelte, der dann für sein gesellschaftspolitisches Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Gorelik hat Sacharow auch persönlich gekannt: Er war einst sein Berufskollege und besuchte in den 1970er Jahren dessen Seminare.
"Vor dem Hintergrund der Stalin-Diktatur kam die wissenschaftliche Schule, in deren Milieu Sacharows Physikerlaufbahn startete und seine Persönlichkeit Gestalt gewann, einem Wunder gleich. In diesem totalitären Staat, der sämtliche Daseinsbereiche knebelte, nahmen sich die akademischen Lehrer dieser Schule die Freiheit heraus, die Stimme des Gewissens zu hören."
Der Biograf begnügt sich nicht damit, den beruflichen Werdegang Sacharows vom hochbegabten Physikstudenten zum Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe zu schildern. Er stellt vielmehr diesen Werdegang in einen Zusammenhang mit der Entwicklung der Physik vom Zarenreich bis hin zu ihrem Aufschwung in der Sowjetunion.
Für den Laien sind die verästelten Beschreibungen der sowjetrussischen physikalischen Schulen und ihrer zahleichen Vertreter eine ungemein schwere Kost. Zumal sie sich über große Teile des knapp 500-Seiten-Werkes erstrecken und in erster Linie an fachkompetente Leser gerichtet sind. Die bisweilen umständliche Übersetzung des Buches von Helmut Rotter fordert den Leser zusätzlich.
Rolle beim Ost-West-Rüstungswettlauf
Spannend wird die Lektüre jedoch, wenn der Autor den Rüstungswettlauf zwischen Amerikanern und Sowjets sowie Andrej Sacharows Rolle dabei beschreibt. 1958 gebraucht der damals 37 Jährige in einem Artikel zum ersten Mal die Attribute "moralisch" und "politisch", Attribute, die nicht zum Vokabular der Physik gehören.

Buchcover: "Andrej Sacharow" von Gennady Gorelik in der Übersetzung von Helmut Rotter© Birkhäuser
Und er kommt zum Schluss, dass fortgesetzte Tests von Wasserstoffbomben, gleichgültig welcher Bauart, daran nicht beteiligte Menschen morden, weil sie den Langzeitfolgen der Testexplosionen wehrlos ausgesetzt sind. Viel später - er ist bereits in die Stadt Gorki verbannt - nennt Sacharow zwei schicksalhafte Momente, die in seinem Leben Weichen gestellt haben.
"Das waren sein auf Jahre veranschlagter Kampf um ein Verbot der oberirdischen Kernwaffentests ebenso wie sein dreiminütiges Eingreifen in die akademische Karriere eines Biologen, der ihm nur dem Namen nach bekannt war."
Gemeint ist Trofim Lyssenko, ein unter Stalin geschätzter Agrarökonom, dessen Erkenntnisse aber unter Wissenschaftlern als unhaltbar angesehen wurden, weil sie schon damals den Grundlagen der Genetik widersprachen, teilweise sogar als gefälscht entlarvt worden waren.
Sacharow hat es also gewagt, eine eigene, kontroverse Meinung zu haben und diese öffentlich zu vertreten. Das schadet ihm zwar unmittelbar nicht, schärft aber den Blick der Herrschenden auf seine Person.
"Der Problemkreis der Kernwaffentests erschließt seiner Gedankenwelt die Sphäre von höchster Staatspolitik und Politik auf internationaler Ebene. Seine kurze Rede auf der Akademieversammlung steht am Beginn seines Weges als Vertreter der Öffentlichkeit, als er daran noch gar nicht gedacht hatte."
Aus Kernwaffen-Schmiede ausgesperrt
Aus Kernwaffen-Schmiede ausgesperrt
Seine hauptberufliche Tätigkeit, Thermonuklearwaffen zu entwickeln, findet dann Mitte 1968 ein abruptes Ende, als man ihn aus dem so genannten OBJEKT, Sowjetrusslands Hauptschmiede für Kernwaffen, aussperrt.
Der Grund dafür sind seine berühmten regimekritischen Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit. Mit ihnen verletzte er das eiserne Prinzip "Schuster bleib bei deinen Leisten". Erwartet wird von ihm, dass er sich mit der Effizienzsteigerung von Waffen befasst und es den Kremlherrschern gefälligst überlässt, wohin und wie diese Waffen zu lenken sind.
Doch er hält sich nicht daran: der Wissenschaftler geht Schritt für Schritt den Weg eines Freiheitskämpfers. Und er begegnet Alexander Solschenizyn, mit dem ihn bald schon eine Freundschaft verbindet, wenn auch eine distanzierte - angesichts ihrer höchst unterschiedlichen Erfahrungswelten und Charaktere.
"Über eine Eigenheit Sacharows haben wir schon von ihm selbst gehört: Sein Auftreten in den 1950gern beschreibt er als äußerlich bescheiden, in Wahrheit aber ist es genau das Gegenteil. Hingegen ist Solschenizyn als tief überzeugter russisch-orthodoxer Christ ungeachtet all seiner hitzköpfigen Rechthaberei zu christlicher Demut angehalten."
Andrej Sacharow stirbt im Dezember 1989 wenige Stunden nach einem öffentlich ausgetragenen Disput mit Michail Gorbatschow, dem letzten Präsidenten der Sowjetunion.
Er hat kein unstrittiges Erbe hinterlassen, sondern Fragen, auf die es bislang keine klaren Antworten gibt. Etwa die, ob die Erfindung der Wasserstoffbombe tatsächlich einen dritten Weltkrieg verhinderte?
Gennady Gorelik versucht, solche Fragen wissenschaftlich begründet zu beantworten. Dies ist sicherlich ein Verdienst seiner Sacharow-Biographie, die er akribisch recherchiert und mit einer großen Fülle an Details gespickt hat.