Binyamin Appelbaum: "Die Stunde der Ökonomen"

Experten ohne Selbstzweifel

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Buchcover von Binyamin Appelbaum "Die Stunde der Ökonomen auf einer Grafik.
Was von Ökonomen zu halten ist, kann man bei Binyamin Appelbaum nachlesen. © S. Fischer / Deutschlandradio
Von Ursula Weidenfeld · 27.06.2020
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Staatsverschuldung ist schlecht – die schwarze Null ist gut. Manche ökonomische Leitsätze sind zum politischen Mantra geworden. Wie konnten Ökonomen derart mächtig werden? Binyamin Appelbaum beschreibt den rasanten Aufstieg allzu selbstgewisser Experten.
Wie haben es die US-amerikanischen Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts geschafft, so viel politischen Einfluss zu bekommen? Wie konnten sie zu den wichtigsten Beratern der Regierungen werden, nicht nur in den USA? Wer das wissen will, sollte unbedingt "Die Stunde der Ökonomen" von Binyamin Appelbaum lesen.
In seiner rasanten Wirtschafts- und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts schildert Appelbaum, wie die eher randständigen Existenzen in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten zu Kapitänen der Notenbanken, Wirtschaftsministerien, Beratungsgremien wurden – und wie selbstbewusst sie ihren Einfluss in allen Lebensbereichen ausübten.

Aus den "Kellerverliesen des Finanzministeriums"

Die Stunde der Ökonomen brach, so Appelbaum, nach dem Zweiten Weltkrieg an. Vorher hätten Juristen und Banker die Politik der USA am stärksten beeinflusst. Wirtschaftswissenschaftler fristeten, wenn überhaupt in Regierungsdiensten, ihre Existenz in fensterlosen Kellerräumen, wo sie die statistischen Daten der Vereinigten Staaten zusammentrugen und in staubigen Ordnern abhefteten.
Warum genau sich das änderte, weiß Appelbaum nicht. Doch auf einmal bestimmten Wissenschaftler wie Milton Friedman, Paul Volcker, Robert Mundell, Arthur Laffer oder Alan Greenspan die Debatte um wirtschafts-, finanz- und geldpolitische Themen.
Vielleicht war es so, dass die Menschen in den USA nach Präsident Roosevelts "New Deal" und nach dem Zweiten Weltkrieg den Staat als Hauptakteur in der Wirtschaft einfach satthatten. Möglicherweise hatten sie auch den Eindruck, dass Arbeitslosigkeit und Inflation völlig aus dem Ruder gelaufen waren, und dass es der US-Regierung partout nicht gelingen wollte, beides einzudämmen. Jedenfalls waren sie auf einmal da, die Wirtschaftswissenschaftler. Sie stiegen aus ihren Kellerverliesen auf und nahmen auf den Präsidentenstühlen der Federal Reserve Bank Platz, wurden Finanzminister, ließen sich in Beratungsgremien des Weißen Hauses berufen.

Wachsende Ungleichheit bewusst herbeigeführt

Appelbaum konzentriert sich auf die USA. Aber das ist überhaupt kein Schaden. Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler haben schließlich in den letzten 100 Jahren die Weltwirtschaft geprägt. Appelbaum erzählt von den persönlichen Rivalitäten und Schrullen der Nobelpreisträger und Notenbanker, von ihren Tricks, amerikanische Präsidenten für ihre Überzeugungen zu gewinnen, und vor allem: von ihrer Ignoranz gegenüber dem Schicksal der amerikanischen Bürger.
Denn Appelbaum sieht die Herrschaft der Ökonomen kritisch. Er beklagt, dass sie die USA und die Welt zu einem gigantischen Experimentierfeld ihrer Ideen gemacht hätten. Mal mehr, mal weniger Markt, mal kleinkarierte, mal gar keine Regulierung, mal viel Inflation, und dann wieder strengste Preisstabilität. Die amerikanischen Regierungen hätten sich den Wirtschaftswissenschaftlern immer wieder ausgeliefert.
Die Folgen dieser Ratschläge hätten die einfachen Leute ausbaden müssen. Die Konsequenz sei eine wachsende und inakzeptable Ungleichheit der Gesellschaft, in der die obersten zehn Prozent mit der Hälfte des Gesamteinkommens aller Amerikaner nach Hause gehen – rund 20 Prozentpunkte mehr als zu Beginn der Siebzigerjahre.
Diese Ungleichheit zerstöre den sozialen Frieden, die Durchlässigkeit der Gesellschaft und hemme das Wirtschaftswachstum. Am Ende korrumpiere sie das politische System, weil nicht mehr jede Stimme gleich zähle, sondern die der Reichen überbewertet werde. Statt den amerikanischen Traum zu feiern, wonach jeder aus einfachsten Verhältnissen aufsteigen kann, hätten die Ökonomen ihn durch ihre Ratschläge zerstört. Die "vorsätzliche Gleichgültigkeit" der amerikanischen Politik gegenüber der Verteilung von Reichtum habe in die heutige Krise der amerikanischen Demokratie geführt, argumentiert Appelbaum.

Überzeugendes Buch mit Schwäche

So weit, so gut, so interessant. Appelbaum ist Journalist und leitet das Wirtschaftsressort der New York Times. Er weiß genau, wie man Geschichten erzählen muss, damit Leser auch nach der vierhundertsten Seite dabeibleiben. Man braucht eine starke These – hier: Die Ökonomen tragen die Verantwortung für die Polarisierung der Gesellschaft –, und die hält man dann auch durch. Genau darin liegt aber auch die Schwäche des Buchs.
Es ignoriert die komplexen Entscheidungssituationen, in denen sich die amerikanische Politik des 20. Jahrhunderts immer wieder grundsätzlich orientieren musste. Es vernachlässigt technische Entwicklungen und säkulare Einflüsse: Welche Rolle spielten der Vietnam-Krieg, die Ölkrise, der Fall des Eisernen Vorhangs, Globalisierung und Informationsgesellschaft, die Digitalisierung für die beschriebenen Entwicklungen? Waren es tatsächlich allein die Wirtschaftswissenschaftler, die einen giftigen Cocktail angerührt haben, der in die Finanzkrise geführt hat?
Appelbaum stellt diese Fragen gar nicht erst. Das macht "Die Stunde der Ökonomen" auf der einen Seite lesbar, stringent und überzeugend. Doch es ist wie im Theater: Wird das Licht nur auf eine Stelle der Bühne gerichtet, erscheint sie dem Zuschauer wie der Nabel der Welt. Nur wenn alle Scheinwerfer an sind, sieht man das ganze Bild.

Binyamin Appelbaum: "Die Stunde der Ökonomen. Falsche Propheten, freie Märkte und die Spaltung der Gesellschaft"
Aus dem Amerikanischen von Martina Wiese
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020
560 Seiten, 26 Euro

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