Bildungspolitik

An der Schulpforte endet die Chancengleichheit

Müder Schuljunge schläft an einem Schreibtisch in einem Klassenraum.
Ein Kind von Gutverdienern hat einen weiteren Vorteil: einen freien Kopf. Im Gegensatz zu einem Kind, dessen Familienalltag von Geld- und Zeitnot geprägt ist, das ist empirisch belegt. © Imago / fStop Images / Malte Müller
Eine Intervention von Karlotta Ehrenberg |
Der Wechsel von der Grund- zur weiterführenden Schule war früher oft nur eine Formalie. Heute entscheidet sich an dieser Stelle womöglich schon der ganze weitere Lebensweg des Nachwuchses. Das Nachsehen haben wie immer Kinder aus armen Familien.
Zum Glück, Tränen gab es am Zeugnistag nicht. Der Numerus clausus meines Elfjährigen, der bald an eine höhere Schule wechseln wird, scheint gut genug, um im Bewerbungsmarathon mitzuhalten. Ja, Sie haben richtig gelesen, in Berlin müssen sich schon Menschen dieses Alters ins Rennen um die besten Plätze begeben.
Monatelang haben wir Eltern uns mit ihnen von Oberschulmesse zu Schnupperunterricht zu Tag der Offenen Tür geschleppt - um in vielen Fällen festzustellen, dass das Kind eh keine Chance hat, mit einem Durchschnitt von zwei braucht es gar nicht erst ankommen, und wehe die Schule steht auf der Wunschliste nicht ganz oben. "Da müssen Sie sich schon entscheiden", sagte mir eine Schulleiterin mit spitzem Mund.

Die erste große Ohnmachtserfahrung im Leben

Falsch. Sie ist es, die auswählt. Selbst ein Kind mit einem Einserdurchschnitt weiß nicht, ob es genommen wird, wo es mit seinen Freund:innen hinwill oder ob es am Ende allein zu einer anderen Schule quer durch die Stadt pendeln muss.
Egal, wie sehr ich mir auch den Allerwertesten aufreiße, mein Schicksal habe ich nicht im Griff. Diese Ohnmachtserfahrung machen Kinder hier schon im Alter von elf, zwölf oder dreizehn Jahren.

Tränen im Hamsterrad der Leistungsgesellschaft

Das ist doch eine wunderbare Vorbereitung für das spätere Leben, werden Sie nun sagen, und da haben Sie recht. Das Problem ist nur: Den Kindern wird was anderes vorgegaukelt. Du kannst alles schaffen, du musst es nur wirklich wollen und dich richtig anstrengen!
Was für einen Stress haben sich unsere Kinder in den letzten Monaten gemacht, um den Berg an Klassenarbeiten, Powerpoint-Präsentationen und anderen Leistungskontrollen zu meistern, um ja nicht auf eine "Loser"-Schule zu müssen - in dieser Zeit gab es Tränen, gepaart mit Schlaflosigkeit, Angstschweiß und Übelkeit.
Dabei war es gar nicht nötig, dass wir ihnen im Nacken saßen. Obwohl es das natürlich auch gab, also Eltern, die ihr Kind persönlich coachten und schon im Voraus ausrechneten, wie es performen muss, damit es für eine gute Schule reicht.

Feine Unterschiede, große Wirkung

Ja, die Haupt- und Realschule hat man in dieser Stadt zwar abgeschafft, die soziale Spaltung ist jedoch stärker denn je. Während an vermeintlich besseren Schulen Kinder aus reicheren Familien ganz unter sich bleiben, reißen sich andere Lehranstalten, meist in weniger betuchten Gegenden, um Schüler:innen aus akademischen und ja, auch biodeutschen Haushalten - dass Klasse und Herkunft häufig eng zusammenhängen, kann man an den Bildungsstätten der deutschen Hauptstadt bestens beobachten.
Dass Politiker:innen für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen wollen, damit Kinder unabhängig vom Elternhaus gute Leistungen erbringen können, ist prima, weil dringend nötig. Es reicht jedoch nicht aus. Denn die „feinen Unterschiede“, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu vor über 40 Jahren in seinem gleichnamigen Buch beschrieb, wirken auch heute noch.

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So sind in einer Gesellschaft die im Vorteil, die neben kulturellem Kapital in Form von Bildung genügend Geld, gute Beziehungen und soziales Ansehen genießen. Es lohnt sich also, an die Visitenkarte zu denken, wenn man bei der Schule vorstellig wird, und auf die richtige Kleidung und Sprache zu achten.
Wer schlau ist, lässt seinen Spross schon in frühem Alter ein Instrument lernen, dafür gibt es an einigen Schulen einen Bonus. Ein musizierendes Kind bereichert nicht nur das Schulorchester, mit ihm gewinnt man auch ein gewisses Milieu. Mit den 15 Euro aus dem Bildungs- und Teilhabepaket lässt sich die Musikschule leider nicht bezahlen. So wie im Falle einer Absage ärmeren Eltern leider das Geld für eine Privatschule fehlt - oder einen Anwalt, der den Schulplatz einklagt.

Der reine Notenvergleich ist ungerecht

Ein Kind von Gutverdienern hat noch einen weiteren Vorteil: einen freien Kopf. Im Gegensatz zu einem Kind, dessen Familienalltag von Geld- und Zeitnot geprägt ist, das ist empirisch belegt.
Kinder aufgrund ihrer Noten miteinander zu vergleichen, ist deswegen schon von Grund auf falsch, sie gegeneinander in den Wettkampf zu schicken in höchstem Maße ungerecht.

Karlotta Ehrenberg, Jahrgang 1979, schreibt hauptsächlich für den Film. Zudem berichtet sie als Reporterin u. a. für die Deutsche Presse-Agentur und die „taz“. 2022 ist ihr erstes Sachbuch bei Audible erschienen: „Ich mach mich fertig. Vom ewigen Schuften am persönlichen Glück“ – eine Gesellschaftsanalyse mit Fokus auf das Diktat zur Selbstverwirklichung und -optimierung“.

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