Bildungsarbeit mit Jugendlichen in Frankreich

Muslimin im Kampf gegen die Radikalisierung

Vor dem islamischen Halbmond und Stern weht die französische Flagge.
Eine französische Fahne weht über der Großen Moschee von Paris © AFP/Patrick Kovarik
Von Bettina Kaps · 18.01.2016
Eine Frau mit Kopftuch in französischen Schulen? Das widerspricht dem Laizismus-Gebot in Frankreich. Aber bei Latifa Ibn Ziaten machen viele Schulen eine Ausnahme. Die Muslimin engagiert sich gegen die Radikalisierung von Einwandererkindern und erzählt ihre eigene dramatische Lebensgeschichte.
Eine fensterlose Aula, weiß und blau gestrichene Wände, schwaches Licht. 70 Berufsschüler blicken auf die Frau mit Kopftuch. Latifa Ibn Ziaten steigt auf das Holzpodest vorne im Saal. Die 55-Jährige ignoriert Sessel, Tisch und Wasserflaschen. Sie spricht im Stehen:
"Ich bin die Mutter von Imad, dem Soldaten, der am 11. März 2012 von Mohamed Merah ermordet wurde."
Rasch skizziert sie ihren Lebensweg: Mit 17 ist sie aus Marokko ausgewandert und zu ihrem marokkanischen Mann nach Rouen gezogen, in die Normandie. Damals konnte sie nicht lesen und schreiben, weil sie aus einer armen Familie stammt, die aber sehr reich an Werten war. Respekt, Erziehung und Teilen wurden groß geschrieben, sagt Ibn Ziaten.
Latifa erzählt, dass sie sich enorm angestrengt hat, um sich in Frankreich einzugliedern. Und wie dankbar sie ist, dass Frankreich sie akzeptiert hat.
Der Terrorist wusste nicht, was Liebe ist
"Meine Herkunft: ich bin Marokkanerin, meine Glaube – ihr seht es ja: Ich bin Muslimin, und natürlich bin ich französische Staatsbürgerin und stolz darauf."
Ihre fünf Kinder hat sie wie Franzosen erzogen, sagt Latifa Ibn Ziaten. Imad, der Zweitälteste, ist zum Militär gegangen, als Fallschirmspringer.
"Aber dann kam einer, der nicht geliebt wurde, den seine Familie zurückgestoßen hatte, der auf Abwegen war, Drogen, Gefängnis. Ein Monster, ein Terrorist, Mohamed Merah. Ich habe ihm vergeben – nicht die Tat - aber seiner Person vergebe ich, weil Mohamed Merah nicht gewusst hat, was Liebe ist."
Imad und Mohamed, zwei Einwandererkinder – ein Opfer, ein Mörder. Ein französischer Soldat, ein französischer Terrorist, angeblich im Namen des Islam.
Es war im März 2012, in Toulouse und Montauban: Dort hat der 23-Jährige insgesamt drei Soldaten erschossen, danach ein Blutbad in einer jüdischen Schule angerichtet, bei dem drei Kinder und ein Rabbiner starben. Wenig später wurde er von Polizisten in seiner Wohnung gestellt, belagert und erschossen. Merah hatte sich als Unterstützer des Terrornetzwerks al-Qaida bezeichnet.
Er hat seine Taten gefilmt, sagt Latifa. Daher weiß sie, dass ihr Sohn sich geweigert hat, vor dem Mörder nieder zu knien – und deshalb spricht auch sie im Stehen, egal, wie müde sie ist.
"Kapselt euch nicht ab"
Latifa Ibn Ziaten erzählt, wie sie allein nach Toulouse gefahren ist, in die Siedlung, wo der Täter aufgewachsen war. Um zu verstehen. Dort traf sie junge Leute:
"Ich habe gefragt: Wisst ihr, wo er gewohnt hat, Mohamed Merah? Einer hat gesagt: Mohamed Merah ist ein Märtyrer, ein islamischer Held, er hat Frankreich in die Knie gezwungen. Mon Dieu! Das war für mich, als ob mein Sohn ein zweites Mal getötet worden sei. Ich habe gesagt: Ich bin die Mutter von Imad, den Mohamed Merah ermordet hat. Da haben sie sich entschuldigt, und einer hat erklärt: Schauen Sie, wo wir leben, Madame. Wenn man Ratten einsperrt, werden sie gefährlich."
Nach diesem Erlebnis hat sie einen "Verein für den Frieden" gegründet und nach ihrem Sohn benannt. Seither trägt Latifa Ibn Ziaten ihr Leid in Schulen, Gefängnisse, Vereine. Mit sanfter Stimme und leicht fehlerhaftem Französisch erzählt sie ihre Geschichte, wieder und wieder. Die Berufsschüler im Saal sind mucksmäuschenstill.
"Falls ihr Sorgen habt, ruft mich an, ich gebe euch meine Nummer. Wir können zusammen Lösungen suchen. Kapselt euch nicht ab."
Ein Mann im schwarzen Anorak lässt Latifa Ibn Ziaten nicht aus den Augen. Er ist Polizist. Das Innenministerium schickt einen Leibwächter, wann immer sie auf Vortragsreise geht. Denn Latifa Ibn Ziaten stört: Sie stört Muslime, die sich nicht belehren lassen wollen, und Franzosen, vor allem solche, die politisch ganz rechts stehen.
"Ich bin schon oft beschimpft worden: 'Nehmen Sie den Lappen vom Kopf, gehen Sie nach Hause zurück. Von Ihnen lassen wir uns doch nichts über Toleranz und Laizismus erzählen.' Für manche Franzosen darf eine Frau mit muslimischem Kopftuch grundsätzlich nicht über die Republik sprechen."
Die nächsten Schüler betreten lärmend den Raum. Latifa Ibn Ziaten steigt wieder auf das Holzpodest vorne im Saal. Sie steht aufrecht da, neben dem Sessel.
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