Bildung und Einkommen

Geringverdiener trotz Studium

Studenten sitzen an Tisch in Universitätsbibliothek, Blick von oben.
Ein Studienabschluss führt nicht immer auch zu einem höheren Einkommen. © imago / Artur Cupak
Andreas Schleicher im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.06.2018
Niedriglohn trotz hoher Bildung: Jeder zehnte Akademiker verdient einer Studie zufolge weniger als 10,22 Euro pro Stunde. Dem Bildungsforscher Andreas Schleicher zufolge liegt das an einer ungünstigen Studienfachwahl und am sozialen Hintergrund.
Dieter Kassel: In gut zwei Stunden, um zehn Uhr, wird der neue Bildungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vorgestellt, und in der Studie "Bildung in Deutschland 2018" geht es diesmal vor allem auch um die Frage der Wirkung von Bildung. Damit sind verschiedene Dinge gemeint, unter anderem natürlich auch die Frage, ob Menschen mit einer guten Ausbildung, zum Beispiel einer akademischen Ausbildung in Deutschland tatsächlich beruflich erfolgreicher sind und mehr verdienen als andere.
Die Ergebnisse der Studie sind vorab nicht bekannt, aber es gibt andere Studien zu dieser Frage, zum Beispiel eine des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, und da wurde zum Beispiel festgestellt, dass in Deutschland immerhin zehn Prozent der Akademiker, die eine feste Stelle haben, weniger als 10,22 Euro pro Stunde bekommen, also nur knapp über dem Mindestlohn liegen mit ihrem Einkommen.
Das zeigt, so ganz grundsätzlich ist es nicht so, dass man mit guter Ausbildung mehr verdient, und genau über dieses Thema wollen wir jetzt mit Andreas Schleicher reden. Er ist Statistiker und Bildungsforscher und Direktor des Directorate of Education and Skills der OECD, und deshalb vor allen Dingen in Deutschland bekannt als der Mann, den man immer nach der PISA-Studie fragt, was wir nur unter anderem indirekt jetzt tun werden. Schönen guten Morgen, Herr Schleicher!
Andreas Schleicher: Guten Morgen, Herr Kassel!

"In der Regel enger Zusammenhang zwischen Bildung und Einkommen"

Kassel: Woran liegt das denn, dass in Deutschland auch Menschen mit überdurchschnittlich guter Ausbildung manchmal nicht überdurchschnittlich gut verdienen?
Schleicher: In der Regel ist der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und gesellschaftlichem und auch wirtschaftlichem Erfolg sehr stark. Sie können davon ausgehen, dass jemand mit akademischer Ausbildung 70 Prozent mehr verdient als jemand mit einer Basisausbildung. Also, der Zusammenhang ist sehr eng, natürlich. Sie werden immer jetzt einen Popstar oder Fußballspieler finden, der jetzt trotz geringer Bildung sehr viel verdient, und Sie finden auch ein paar Akademiker, die jetzt trotz guter Ausbildung Taxifahrer werden. Aber das ist eine Minderheit. In der Regel ist der Zusammenhang zwischen Bildung und gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Erfolg in Deutschland, aber auch insgesamt sehr hoch.
Kassel: Aber wenn nun trotzdem, sagen wir mal, zehn Prozent derer, die später überhaupt eine feste Stelle haben, das sind ja auch nicht alle aus unterschiedlichen Gründen, liegen knapp einen Euro über dem Mindestlohn. Zehn Prozent ist auch nicht so wenig. Woran liegt es denn, dass es eine, wie ich das nennen würde, relevante Gruppe mit Ausnahmen gibt?
Schleicher: Das sind Menschen, die haben vielleicht etwas studiert, was gerade nicht so gefragt ist. Es gibt viele Gründe dafür. Es gibt auch andere Formen des sozialen Kontexts, die da eine Rolle spielen. Aber noch einmal, Bildung ist die beste Garantie, im Leben erfolgreich zu sein.

Eine Frage des sozialen Kapitals

Kassel: Es gibt allerdings auch Untersuchungen, die zeigen – was mich gewundert hat, ich hätte … Ich gebe mal hier eine These eines Laien von mir: Ich habe immer gedacht, dass Leute, die es nicht leicht hatten, auf eine Universität zu kommen, die aus bildungsfernen Haushalten kamen, die darum kämpfen mussten, dass die robuster sind und nach dem Studium eben auch nicht erwarten, ich krieg jetzt sowieso eine Stelle, und sich deshalb besser durchsetzen. Es gibt Studien, die zeigen, dass das eigentlich nicht so ist, oder?
Schleicher: Ja, ich denke, das ist die andere Seite der Medaille, dass in Deutschland eben Bildung auch sehr stark..., also der soziale Kontext, aber auch der Bildungshintergrund der Eltern einen sehr starken Einfluss auf die Bildungschancen der Kinder haben. Das ist im Grunde die Kehrseite der Medaille. In Deutschland gilt, wer aus einem ungünstigen sozialen Umfeld kommt, der hat sehr viel schlechtere Bildungschancen, die teilweise durch das Bildungssystem selbst auch noch mal verstärkt werden. Das muss man sagen. Das ist ganz sicher so, und das ist eine Frage der Bildung, aber auch eine Frage im Grunde des sozialen Kapitals – was bringe ich mit aus der Gesellschaft? Es zählen ja im Leben nicht nur die kognitiven Leistungen, sondern auch sehr viel die sozialen, emotionalen Einstellungen. Das alles ist in Deutschland die Kehrseite der Medaille.

"Gebildete engagieren gesellschaftlich viel stärker"

Kassel: Es geht in dieser Bildungsstudie in Deutschland, die heute vorgestellt wird, generell um die Wirkung von Bildung, und es gibt auch – wenn, wie ich finde, noch weniger, aber mit dem Geld, das ist statistisch natürlich einfacher zu erfassen, wie viel verdient ein Mensch dann. Aber es gibt ja auch Untersuchungen zu der Frage, was bedeutet Bildung auch für die sogenannte soziale Teilhabe. Das geht bei manchen Untersuchungen bis hin zum Wahlverhalten. Das heißt, kann man sagen, mehr Bildung bedeutet auch im Grunde genommen noch viel mehr als einfach nur mehr Geld auf dem Konto?
Schleicher: Absolut. Dafür gibt es auch in der OECD umfangreiche Analysen. Wir sehen zum Beispiel, dass Menschen mit besserer Bildung sich sehr viel stärker gesellschaftlich engagieren. Sie sehen sich auch als Akteure in der Gesellschaft, während Menschen aus ungünstigen sozialen Kontexten und niedrigem Bildungsstand sich oft so als – sie sehen ihre Beteiligung im Grunde wesentlich geringer. Das sind auch schon wichtige Faktoren, denn letztendlich, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Bildung hängen auch hier eng zusammen. Und deswegen noch einmal: Es ist auch wichtig, dass wir im Grunde die Chancen gerade von Kindern aus ungünstigen sozialem Umfeld im Bildungsbereich deutlich verbessern. Da hat Deutschland noch sehr viel Nachholbedarf, denn das ist die Grundlage für die spätere gesellschaftliche Beteiligung.
Kassel: Aber Sie sagen, Deutschland hat noch sehr viel Nachholbedarf. Das ist ohne Zweifel so, das ist auch keine der berühmten gefühlten Wahrheiten, das kann man ja auch messen zum Teil. Aber seit knapp 20 Jahren, seit dem sogenannten PISA-Schock hört man, es gibt diese großen Probleme in Deutschland, es gibt den großen Zusammenhang soziale Herkunft - Bildungserfolg, und es gibt Länder in der OECD, die es wesentlich besser machen. Hat Deutschland eigentlich in der ganzen Zeit gar nichts gelernt?
Schleicher: Doch. Ich denke, es hat sich doch einiges getan. Denken Sie an das Thema Ganztagsschule. Dass man einfach mehr Zeit geschaffen hat, um soziale Defizite auszugleichen, auch Talente zu finden und zu fördern, ein ganz wichtiger Bereich. Auch im Bereich der frühkindlichen Bildung ist viel passiert. Ich denke, auch dort werden die Weichen sehr früh gestellt, gerade auch im Bezug auf soziale und emotionale Kompetenzen. Da, denke ich, muss man sagen, ist in Deutschland viel passiert. Aber man muss sagen, das Schulsystem heute trägt noch sehr viel zur sozialen Gliederung bei.
Wenn Sie aus günstigem sozialem Umfeld kommen, Ihre Eltern sind gut gebildet, haben viel Geld, dann kommen Sie auf ein Gymnasium. Wenn Sie aus ungünstigem sozialem Umfeld kommen, dann landen Sie auf einer Hauptschule, und das bestimmt im Grunde den weiteren Bildungsweg und Lebenserfolg entscheidend mit. Ich denke, es hat sich viel getan, ohne Zweifel, aber es bleibt noch viel zu tun. Denn, wie gesagt, die Zukunft unserer Gesellschaft hängt sehr davon ab. Unsere Schulen heute sind unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft morgen.

Die Zukunft unserer Wirtschaft hängt von guter Bildung ab

Kassel: Könnten Sie sich vorstellen, dass vielleicht ein gewisser politischer Druck, der gar nicht so sehr aufgrund von Fachkräftemangel und all den Dingen, über die man immer redet, kommt, sondern eher von dieser Vorstellung, dass eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen eben keine gute Ausbildung genossen haben, auch eine regelrecht gefährliche Gesellschaft sein könnte – diese Studie beschäftigt sich auch unter anderem mit dem Wahlverhalten –, dass dieser Druck vielleicht dafür sorgen könnte, dass sich was ändert, etwas schneller als bisher?
Schleicher: Das kann man hoffen, und ich glaube, da liegen auch die entscheidenden Herausforderungen. Und denken Sie an den Einfluss der Digitalisierung, die im Grunde noch diesen Zusammenhang zwischen Bildungsstand, Kompetenz und Lebenserfolg, wirtschaftlichem Erfolg noch mal deutlich verstärkt. Ich denke, da hängt die Zukunft unserer Wirtschaft, die Zukunft unserer Gesellschaft doch entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, wirklich alle jungen Menschen zu einer guten Bildung zu befähigen. Und das ist möglich. Ich denke, was der internationale Vergleich zeigt, ist, dass man das erreichen kann. Das sehen wir in Nordeuropa, das sehen wir in Kanada, das sehen wir in ganz vielen der asiatischen Staaten, wo wirklich Kinder aller sozialer Schichten wirklich gute Bildungsleistungen erreichen. Das ist machbar.
Kassel: Andreas Schleicher, Direktor des Directorate of Education and Skills bei der OECD, über die Zusammenhänge, die zum Teil auch noch mal deutlicher werden heute, in der Studie "Bildung in Deutschland 2018", die um zehn Uhr vorgestellt wird. Herr Schleicher, herzlichen Dank für das Gespräch!
Schleicher: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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