Bildung

Schulsystem macht Inklusion fast unmöglich

Kinder in einer Schulklasse, auf der Tafel ist das Wort Inklusion geschrieben
In Deutschland besucht bisher ein Viertel der behinderten Kinder Regelschulen © picture alliance / dpa
Moderation: Korbinian Frenzel · 19.03.2014
Es funktioniere nicht, Kinder mit Behinderungen auf normale Schulen zu schicken, ohne dass bessere Bedingungen für gemeinsames Lernen geschaffen werden, meint Georg Feuser. Dazu zählt er etwa mehr Projektarbeit und weniger Unterricht in Fächern.
Korbinian Frenzel: Wohin gehören Kinder, in welche Schule, wenn sie körperlich oder geistig nicht dem entsprechen, was als normal gilt? Jahrzehntelang war die Antwort klar: in Sonderschulen, in Einrichtungen für Behinderte. Das ändert sich seit Jahren schon. Seit fünf Jahren mit dem Rückenwind einer UNO-Konvention, die auch Deutschland damals unterzeichnet hat und die ein klares Ziel nennt: Dass Kinder mit Behinderungen auf ganz normale Schulen gehen können. Inklusion ist das Fachwort dafür. Heute beginnt in Bonn eine Tagung der UNESCO zu genau diesem Thema – nicht ganz zufällig, denn der schleppende Prozess, der soll ein bisschen beschleunigt werden. Wir sprechen jetzt darüber mit Georg Feuser, er ist Erziehungswissenschaftler. Früher war er selbst Lehrer und Schulleiter. Einen schönen guten Morgen!
Georg Feuser: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Feuser, schon ein Viertel aller behinderten Kinder ist auf Regelschulen. Man könnte natürlich auch sagen, erst ein Viertel. Warum geht es nicht schneller?
Feuser: Ich denke, da gibt es zwei Problemkreise, die zu benennen wären. Auf der einen Seite gibt es aus meiner Sicht bei allen Sonntagsreden keinen wirklich erklärten politischen Wille, sozusagen eine Schule, in die alle Kinder gehen können, ohne dass sie wegen individueller Merkmale aussortiert werden. Auf der anderen Seite ist die Pädagogik sozusagen in ein selektierendes, ausgrenzendes Schulsystem verstrickt, in dem sie es aus meiner Sicht nicht schaffen kann, was sich mit den Begriffen Integration und Inklusion verbindet, wirklich zu realisieren. Und damit sind wir sozusagen wieder auf der politischen Seite.
Frenzel: Das ist ein ganz interessanter Aspekt, ein ganz interessantes Thema, das wir gleich aufgreifen. Kurze Frage zu dem ersten, was Sie genannt haben. Höre ich da richtig raus: Es fehlt schlicht und einfach Geld für Investitionen? Da geht es manchmal einfach nur um Rampen, da geht es um Veränderungen von Schulräumen und dergleichen?
Feuser: Nein, Herr Frenzel, das glaube ich nicht. Ich würde das als sehr sekundäre Bedingungen ansehen. Ich beschäftige mich, seit im deutschen Sprachraum überhaupt diese Frage vor ungefähr 40 Jahren aufgeworfen wurde, damit. Die primäre Problematik ist die Veränderung unseres Menschen- und Behinderungsbildes in unseren Köpfen. Das heißt, so lange wir eine Einstellung haben, dass ein Mensch mit einer Beeinträchtigung, der mich vielleicht sogar ängstigt, weil ich nicht so sein will, wie der ist, ausgrenze, um seine Gegenwart nicht zu ertragen und damit stigmatisiere, so lange ist das weder strukturell, schulorganisatorisch noch bildungsorganisatorisch, also im Unterricht, zu machen.
"Regelschule wird nicht wirklich verändert"
Frenzel: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann gehen Sie so weit, zu sagen: Wir müssen also das Schulsystem vom Kopf auf die Füße stellen, wir müssten uns zum Beispiel von der Idee einer leistungsorientierten Gymnasialstruktur verabschieden.
Feuser: Im Prinzip haben Sie recht. Ich würde Ihnen voll zustimmen, dass sie zurzeit auf dem Kopf steht, und ich denke, der Bevölkerung ist die Debatte um die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse hinreichend bekannt, wie der Mensch lernt und so weiter. Dann ist diese Organisation in Schulstruktur, die wir heute haben, nicht lern- und bildungsfördernd für die Persönlichkeitsentwicklung. Insofern ist Integration, wenn ich das Wort ernst nehme, nur durch einen Umbau des Schulsystems zu realisieren, denn Inklusion heißt ja, niemanden auszugrenzen, aber viele Inklusionsbefürworter grenzen ganz selbstverständlich Menschen mit geistiger Behinderung, mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, zum Beispiel mit schwereren Formen des kindlichen Autismus und so weiter, aus.
Und der Begriff der Inklusion verträgt keine Ausgrenzung, weder in seiner lateinischen Herkunft, noch im soziologischen Sprachgebrauch, noch im pädagogischen. Und da ist etwas im Gange, was ich für außerordentlich gefährlich halte, nämlich, dass man Kinder jetzt in Anführungszeichen "integriert", also in die Regelschule hineinnimmt, ohne diese wirklich so zu verändern, dass dort ein optimiertes und besseres Lernen möglich ist und damit sozusagen in einem im Kern segregierenden und ausgrenzenden System eine Inklusion implementieren will. Das geht nicht, das ist unmöglich.
Und dann passiert so etwas wie, dass wir auf Restsonderschulen zudriften, das sehe ich in allen Bundesländern in Deutschland, und damit dort sozusagen eine neue geteilte Wirklichkeit schaffen, nämlich integrierbare Behinderte unter den bestehenden Bedingungen und schulisch nicht integrierbar Behinderte unter den gegebenen Bedingungen, und das halte ich für eine außerordentlich große Problematik.
"Es profitieren beide Gruppen"
Frenzel: Aber das bedeutet ja dann in der Konsequenz, dass wir am besten die Finger lassen sollten im Moment von den Inklusionsplänen. Wir sind ja beide Realisten, wir wissen ja, wie das Schulwesen ist. Wir wissen die Tendenzen, die gerade eher in Richtung Leistung gehen, eher in Richtung Gymnasium. Passt die Inklusion gerade überhaupt nicht in unsere Schullandschaft?
Feuser: Das würde ich nicht sagen, im Gegenteil. Ich denke, wir haben einen sehr engen und verengten Leistungsbegriff. Es wird sehr viel geleistet und ich würde auch sagen, die Erfahrung, die notwendig ist im gemeinsamen Lernen von Behinderten, Nicht-Behinderten, von Kindern mit Migrationshintergrund und so weiter, die müssen konkret gemacht werden. Sehen Sie, in der Debatte von Basaglia und Sartre hat Basaglia gesagt: Man muss das andere auch tun, nicht nur denken. Und da hat Sartre drauf geantwortet und hat gesagt: Die offene Flanke ist die Praxis, die offene Flanke der Ideologie.
Das heißt, wir müssen das praktizieren, um überzeugen zu können, dass das für die Kinder die optimalere Lernform ist, sowohl für die, die wir als nichtbehindert, wie die, die wir als behindert betrachten. Es profitieren beide, und sind diese Gruppen nicht zusammen in gemeinsamen Lernfeldern, Unterricht in Bildungsfeldern, dann beraubt man beide Seiten des jeweils anderen. Aber das erfordert eben eine angemessene Pädagogik, das wird einen Projektunterricht erfordern und nicht dieser im Stundentakt wechselnde Fächerunterricht. Aber wie das gehen kann und dass beide Seiten profitieren, ist ganz klar. Da gibt es hinreichende Studien, dass sozusagen im Minimalfall beide Gruppen so gut lernen, wie wenn sie nicht zusammen wären, aber in der Regel deutlichere Entwicklungsfortschritte und eben höhere Leistungen in Bezug auf einen erkennenden Unterricht, nicht nur einen Wissen einpaukenden Unterricht…
Frenzel: Herr Feuser, nun gibt es die Studien, es gibt die Theorien, Sie haben die Praxis angesprochen. Es gibt das natürliche Bedürfnis bei Eltern, das ich sehr gut nachvollziehen kann, die eigenen Kinder nicht zu Testkaninchen für Theorien zu machen. Können Sie verstehen, wenn Eltern von Kindern mit Behinderungen sagen: Ich möchte eigentlich lieber den geschützten Raum einer besonderen Einrichtung haben im Moment, in einem Zustand, wo die Inklusion ganz offenbar noch nicht so weit ist, dass sie wirklich diesen Kindern gerecht wird?
Feuser: Verstehen, Herr Frenzel, kann ich die Eltern in diesen Anliegen, aber ich denke, der Blick auf diese Sache ist nicht angemessen. Man identifiziert mit der Sonderschule einen bestimmten Lernraum und einen bestimmten Schonraum. Wenn man da sehr genau hinschaut, dann ist das, was in der Regel an Qualität in diesen Schulen mit Lernen verbunden wird, nicht gegeben. Es ist kein schulisches System so gut international erforscht worden wie das, was wir Inklusion und Integration nennen, mal abgesehen davon, dass wir eine verträglichere Gesellschaft…wieder ein Denken hinsichtlich eines Gemeinwohls damit vertiefen und grundlegen würden, wo es verschwunden ist.
Frenzel: Inklusion machen, aber sie richtig machen – das sagt der Erziehungswissenschaftler Georg Feuser. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Feuser: Danke Ihnen, Herr Frenzel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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