Inklusion

Zukunft mit Handicap

Eine Goldmedaille der Paralympics 2014 in Sotschi.
Eine Goldmedaille der Paralympics 2014 in Sotschi. © picture alliance / dpa / Igor Russak
Von Ronny Blaschke · 02.03.2014
Die Vereinten Nationen haben Inklusion 2006 festgeschrieben, 2009 hat Deutschland die Vereinbarung ratifiziert. Während in Deutschland das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern langsam vorangeht, hat Russland trotz Paralympics noch viel zu tun.
"Ich will auch allen sagen, dass wenn man im Training mal keine Lust hat, dass man dann versuchen sollte, sich zu motivieren. Mir war auch immer lange Zeit im Wasser kalt, und ich hatte keine Lust zu trainieren, und dann bin ich einfach mal ein bisschen schneller geschwommen – und dann wurde mir warm.“
Lea Stengel ist zehn Jahre alt und stammt aus Berlin. Sie ist mit einer Behinderung auf die Welt gekommen, ihr fehlen vier Finger an einer Hand. Lea verbringt ihre Freizeit im Sportforum Hohenschönhausen, in der Schwimmhalle des Olympiastützpunktes. Ihre Mutter hat sie beim Schwimmen angemeldet, sie trainierte fleißig, wurde schneller und kräftiger. Inzwischen zählt Lea in ihrer Altersklasse zu den größten Talenten Deutschlands. Ihre Trainingspartner, ob mit oder ohne Behinderung, schauen zu ihr auf. Irgendwann möchte Lea Stengel an den Paralympics teilnehmen – und an den Olympischen Spielen.
"Ich muss keine Goldmedaille gewinnen, ich möchte einfach nur daran teilnehmen. Ich habe einen Nachteil, und die anderen halt nicht. Wenn ich einen Zug mache, dann muss man sich ja sehr weit strecken, aber bei der einen Hand fehlt mir ja was. Das sind dann ein, zwei Sekunden, die ich dann langsamer bin. Und auf langen Strecken, so wie 800 Meter, wären es dann insgesamt fünf bis zehn Sekunden, wo ich dann im Nachteil wäre. Und ich schwimme ja auch nicht immer vorne mit. Aber ich strenge mich immer mehr an, so dass ich weiter nach vorne komme. Am Anfang bin ich immer hinten geschwommen, als Letzte. Und jetzt schwimme ich schon in der Mitte. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass ich es soweit schaffen kann.“
Lea Stengel geht in das Schul- und Leistungssportzentrum Berlin. Dieses Zentrum gehört zu den 41 Eliteschulen des Sports hierzulande, in denen 12.000 Kinder und Jugendliche von einer Karriere im Leistungssport träumen. Die Eliteschulen des Sports sind an Olympiastützpunkte und an Paralympische Stützpunkte gebunden. Diese Trainingsstandorte werden in der Regel getrennt organisiert. Nichtbehinderte und behinderte Athleten kommen selten in Berührung. Lea Stengel zeigt, dass es anders geht. Sie ist die erste Berliner Schwimmerin mit Handicap, die mit nicht behinderten Sportlern zusammenarbeitet, in Schule, Training, Wettkampf. Ihr Trainer Matthias Ulm hofft, dass dem Weg von Lea viele Talente folgen können.
"Es gibt generell in Deutschland eine organisatorische Trennung. Auf der einen Seite der Behindertensportverband, dort die Abteilung Schwimmen, andererseits der Deutsche Schwimm-Verband. Und der Olympiastützpunkt möchte einfach, dass wir hier unser Potenzial besser ausnutzen. Also wir versuchen hier sowieso relativ viel, uns an sämtliche Bereiche des Nichtbehindertensports anzugliedern, weil da gibt es einfach Strukturen. Alles neu aufzubauen, funktioniert einfach nicht, dafür ist weder das Geld noch die Manpower da. Weil es ja totaler Schwachsinn wäre, wegen einer Sportlerin einen komplett neuen Zug aufzubauen. Und weil für sie natürlich auch eine Rolle spielt: sie kann sich immer gegen nicht behinderte Athleten beweisen.“
Trainingswelten näher zusammenbringen
Nicht alle Sportler mit einer Behinderung können im Wettkampf gegen Nichtbehinderte bestehen, zu unterschiedlich sind ihre Einschränkungen. Doch Matthias Ulm möchte beide Trainingswelten näher zusammenbringen. Seit 1998 betreut er paralympische Schwimmer, unter seiner Leitung hat sich das Berliner Schwimmteam zu einer der weltweit stärksten Trainingsgruppen entwickelt. Im Sportforum Hohenschönhausen können die Athleten mit Behinderung auf dieselben Strukturen zugreifen wie ihre nicht behinderten Kollegen, auf Kraftraum, Videosystem, Physiotherapie. Immer wieder geht Ulm in die Schulen und hält Ausschau nach Talenten. So ist auch Elke Borchardt aus der Carl-von-Linné-Schule in Lichtenberg ins Berliner Schwimmteam gekommen.
"Mein Bein wurde jetzt verlängert, aber eigentlich war ich Jahre lang immer nur krank, an Sport war überhaupt nicht zu denken. Ich lag immer nur im Krankenhaus, ich war dann wieder mal ein paar Wochen in der Schule, und dann wieder ein paar Wochen im Krankenhaus. Und ich habe am Sportunterricht sowieso nie teilgenommen.“
Seit der Geburt ist das rechte Bein von Elke Borchardt kürzer als das linke, mehr als vierzig Operationen hat sie über sich ergehen lassen müssen. An dieser Einschränkung hatte sie ihre Freizeit ausgerichtet, sie spielte Geige, zeichnete Bilder, strickte Kleidung. Im Sommer 2009 wurde sie von einer Lehrerin gefragt, ob sie schwimmen wolle. Elke Borchardt zögerte, willigte schließlich ein. Sie trainierte hart, bald darauf nahm sie an Wettkämpfen teil. Die Carl-von-Linné-Schule zählt mit über 400 Schülern zu den größten Förderzentren für körperliche und motorische Entwicklung in Europa. Die Schule hat eine Sportklasse gegründet, in der sich Lehrer um Talente kümmern. Sie pflegt eine enge Kooperation mit dem Berliner Schwimmteam, so konnte sich Elke Borchardt rasant entwickeln.
"Ich interessiere mich eher für Kunst, ich lese gerne. Ich hätte nie gedacht, dass ich so ein Sportlertyp bin. Dann habe ich plötzlich gemerkt, wie viel Spaß mir das macht. Ich habe zum Beispiel das erste Mal seit der vierten Klasse eine Vorwärtsrolle gemacht. Ich hätte nie gedacht, dass ich das kann.“
Das Berliner Schwimmteam gilt als vorbildliches Nachwuchsprojekt im paralympischen Sport. Leistung, Nachhaltigkeit, Bildungschancen bilden einen Dreiklang. Aber stellvertretend für die Talentförderung im Behindertensport steht das Schwimmteam nicht, sagt Friedhelm Julius Beucher. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete ist seit 2009 Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, des DBS.
"Uns fehlt ein Flächen deckendes Nachwuchssichtungssystem. Wir sind hier auf die Fachlichkeit einzelner aktiver Vereine und Landesverbände angewiesen, und engagierter Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen. Aber wir haben kein durchgängiges Konzept und Prinzip, um es umsetzen zu können.“
Behindertensportverband ist gewachsen
Die Gesellschaft wird älter, daher ist der Deutsche Behindertensportverband in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel gewachsen, er zählt nun 650.000 Mitglieder in 6.000 Vereinen. Die große Mehrheit der Mitglieder ist im Rehabilitationssport aktiv, ihr Durchschnittsalter liegt bei über sechzig. Wird die Nachwuchsförderung dadurch in den Hintergrund gerückt? Und kann der Verband das Wachstum logistisch bewältigen?
"Zu wenig, als dass wir diese Aufgaben alle leisten können. Wir müssen manche Projekte, die wünschenswert sind, einfach ablehnen, weil wir die Manpower nicht haben. Und das ist eine Sache, die hält von sehr vielen zukunftsfähigen Arbeiten ab, sich auch darum zu bemühen. So etwas ist auch mittel- und langfristig nicht mit ehrenamtlichen Präsidien zu leisten. Mittelfristig kommt kein Verband, der international wettbewerbsfähig sein will, an hauptamtlichen Strukturen in der Leitungsebene vorbei.“
Auch im Behindertensport werden die Grundlagen in den Schulen gelegt, deshalb hat Tanja Walther-Ahrens eine Fußball-AG ins Leben gerufen. Die ehemalige Bundesligaspielerin unterrichtet an der Biesalski-Schule in Zehlendorf, mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Walther-Ahrens steht wie ihre Kollegen vor einer Herausforderung: Inklusion. So heißt das Ziel, behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten. Die Vereinten Nationen haben Inklusion 2006 festgeschrieben, die Bundesrepublik hat diese Vereinbarung 2009 ratifiziert. In Zehlendorf arbeitet die Biesalski-Schule mit der Quentin Blake Europaschule zusammen, einer Grundschule, die auf zweisprachigen Unterricht setzt. Können hier behinderte und nicht behinderte Kinder voneinander lernen? Tanja Walther-Ahrens:
"Funktioniert nicht ganz so gut, weil die Ideen sehr unterschiedlich sind. Vor allem, wenn Grundschüler älter werden, entsteht schon ein richtiger Leistungsdruck, was die alles machen müssen. Und dann sind häufig auch die Eltern der Meinung, dass da keine Zeit mehr bleibt, um sich mit anderen Kindern aus anderen Lebenswelten auseinander zu setzen. Sondern da muss man sich mit den Unterrichtsfächern auseinander setzen, dass das Miteinander relativ wenig ist. Aber ansonsten teilen wir uns ein Gebäude und haben nicht viele Berührungskontakte. Das merken wir spätestens, wenn es in die Pubertät geht, fallen auch Kinder, die schwer mehrfach behindert sind, oft einfach raus, weil sie tatsächlich auch eine ganz andere Betreuung bräuchten. Und dann wird es richtig schwierig, die auch zu inkludieren.“
Fast eine halbe Million Schüler haben in Deutschland einen Förderbedarf, sie müssten gezielt unterstützt werden. Neben dem dreigliedrigen System der Regelschulen unterhalten manche Bundesländer Förderschulen mit mehreren sonderpädagogischen Schwerpunkten: für Hören, Sprechen, geistige oder sozial-emotionale Entwicklung. Können Schüler mit den unterschiedlichsten Handicaps zusammen unterrichtet werden? Vor zehn Jahren wurden acht Prozent der Schüler mit einer Behinderung in inklusiven Schulen unterrichtet, heute sind es mehr als zwanzig. Doch im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, zu Italien oder den USA steht die Debatte in Deutschland noch am Anfang.
"Eine Idee, die an unserer Schule auch entstanden ist, warum muss Inklusion immer so ablaufen, dass die Förderschule in die Regelschule inkludiert wird, warum kann man es nicht auch anders ablaufen lassen. Weil wir unterrichten ja nach dem Rahmen-Lehrplan Grundschule. Wir haben ja keine anderen Grundgesetze, in Anführungszeichen, als die anderen Schulen auch. Von daher kann man ja auch darüber nachdenken, den Weg andersherum zu gehen.“
Mehr Lehrkräfte sind nötig
Um inklusiven Unterricht anzubieten, müssten bundesweit 9.300 Lehrkräfte eingestellt werden, meint der Bildungsökonom Klaus Klemm. Das würde jährlichen Kosten von 660 Millionen Euro entsprechen. Hinzu kommen bauliche Veränderungen: Fahrstühle oder Orientierungshilfen für Schüler mit Sehschädigung.
Die Forscher der Sporthochschule in Köln haben das Thema Inklusion schon vor Jahren auf die Agenda gesetzt. Von den 5.000 Studierenden befinden sich 2.000 im Lehramt. Seit 2008 organisiert die Hochschule eine Aktionswoche, um Studierende für inklusiven Sport zu sensibilisieren. In vielen Universitäten sieht das laut dem Sportwissenschaftler Thomas Abel anders aus.
"Und da glaube ich schon, dass die Hochschulen sich sehr beeilen müssen. Dass sie sehr gefordert sind. Dass sie, wenn man es böse formulieren will, Teile schon verschlafen haben. Weil wir bilden ja jetzt Lehrer aus, die sind dann die nächsten dreißig Jahre im Berufsfeld. Das heißt, sie müssen sich jetzt damit auseinander setzen dürfen. Wir sind dann jetzt auch mittlerweile im Bachelor- und Masterbereich unterwegs, also musste der Studienplan komplett überarbeitet werden. Da steht aber jetzt nirgendwo drin, dass man eine Veranstaltung machen muss, in der die Studierenden auf den Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung vorbereitet werden. Und das wäre ein Wunsch von mir, dass man das verbindlich in die Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den Universitäten aufnimmt.“
Die Eignungstests der Sporthochschule gelten als anspruchsvoll. Thomas Abel will trotzdem junge Menschen mit einer Behinderung für ein Sportstudium gewinnen. Die können ihr Handicap in den Eignungstests und Semesterprüfungen durch Ersatzleistungen ausgleichen. So kommen Studierende mit einer Querschnittslähmung später nicht als Sportlehrer infrage, schließlich müssen sie Hilfestellung leisten. Doch in anderen Feldern des Sports muss ihre Einschränkung kein Hindernis sein: in Ökonomie, Medien, Psychologie. Thomas Abel vermutet, dass es auch künftig noch Förderschulen geben wird, für schwer mehrfach behinderte Kinder. Doch die meisten Kinder sollten in Regelschulen zusammengeführt werden. Thomas Abel.
"Wir haben unter Umständen dreißig Kinder oder mehr in einer Klasse. Wir haben einige davon, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Wir haben welche, die einen anderen religiösen Hintergrund haben. Wir haben welche, die vielleicht mit der Unterrichtssprache noch Schwierigkeiten haben. Und dann kriegen wir jetzt noch ein paar Kinder dazu, die unter Umständen von ihren körperlichen Voraussetzungen, aber vielleicht auch von ihren kognitiven Voraussetzungen, Veränderungen haben. Das sind ja nicht so unendlich viele, das sind sechs Prozent, grob von der Orientierung. Und ich glaube, dass da der Sport ideale Voraussetzungen hat. Weil das ist das, was wir immer machen: also mit unterschiedlichen Menschen arbeiten. Und dann über die Freude an gemeinsamer körperlicher Aktivität Gruppengefühle zu schaffen. Und dass auch die Kinder ohne Behinderung extrem davon profitieren werden, von dieser Vielfalt, von diesem Miteinander, wo man gemeinsam was erarbeiten kann, wo man vielleicht auch eine Empathiefähigkeit entwickeln kann.“
Ballsport für Menschen mit Sehbehinderung
Die Berliner Max-Schmeling-Halle. Sabine Kuxdorf konzentriert sich, achtet auf ihre Umgebung. Aus der gegnerischen Hälfte rollt der Spielball auf sie zu. Die 18-Jährige ist blind. Sie kann den Ball, in dem kleine Klingeln befestigt sind, nur hören. Sie wirft sich auf den Boden, streckt ihre Arme aus, robbt einen Meter nach rechts und pariert den Ball. Dann richtet sich Sabine Kuxdorf auf, aus der Verteidigung in den Angriff. So geht es beim Goalball hin und her, einem beliebten Ballsport für Menschen mit Sehbehinderung.
"Ich mache sehr gern Sport. Mir macht es halt sehr viel Freude, zu Turnieren zu fahren und neue Leute kennenzulernen und gegen andere Mannschaften anzutreten. Ich finde, das schöne am Goalball ist, dass es wie eine Familie ist. Dass man bundesweit ziemlich viele Leute kennt, aber auch aus dem Ausland Leute kennt. Das ist einfach schön, weil es auch eine Gemeinschaft ist.“
Mit ihrem Gymnasium aus Marburg nahm Sabine Kuxdorf an einem Wettbewerb teil, der immer größer wird: "Jugend trainiert für Paralympics“. Das Sportfest fand 2013 in Berlin erstmals gemeinsam mit dem Vorbild statt. "Jugend trainiert für Olympia“ gilt als der größte Schulsport-Wettbewerb der Welt, mit jährlich 800.000 Kindern und Jugendlichen. In zwanzig Sportstätten kamen rund 3.000 Schüler zusammen. Jugendliche mit und ohne Behinderung traten in unterschiedlichen Sportarten an, doch erstmals profitierten sie von denselben Sportstätten und derselben Betreuung.
Sebastian Holzheu nahm am Turnier für Rollstuhlbasketball teil. Der 16-Jährige stammt aus Renningen bei Stuttgart, er leidet am sogenannten Proteus-Syndrom, an einem körperlichen Überwuchs. Holzheu besucht eine Privatschule, auf der mehrheitlich Schüler mit Behinderung unterrichtet werden. Als Grundschüler ging er auf eine Regelschule, in seinen Klassen war er meist der einzige Schüler mit Behinderung.
"Da waren es noch nicht mal die Schüler, die krass waren, sondern es waren die Lehrer. Die Lehrer haben jetzt nichts Spezielles gesagt zu mir, aber die Lehrer haben zum Beispiel bei Ausflügen gemeint, der kann da nicht mit, weil er da nicht hinterher kommen würde. Meine Mutter hat sich da aber immer eingesetzt, auch manchmal bei den Lehrern beschwert und ich bin trotzdem überall mit.“
Norbert Fleischmann, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend, hat diese Vorurteile bei Lehrern, Trainern und Schülern erlebt. Er macht sich schon lange für den gemeinsamen Schulwettbewerb stark.
"Ich hatte zuerst ein großes Problem, vielleicht zehn Minuten zu suchen, wo sind meine Leute, und das ist auch gut so. Man findet sie nicht mehr, ist einfach ein ganz normales Turnier. Das sind eben ein paar Behinderte dazwischen, nein, es sind Tischtennisspieler. Auch der Begriff gefällt mir schon gar nicht mehr, Behinderter. Dort spielen junge Menschen auf ihre Art gemeinsam Tischtennis, machen Sport. Und da kommt es natürlich zu Kontakten, wenn es nur Blickkontakte sind. Das man rüber schaut, und sagt: Mensch, der spielt im Rollstuhl Tischtennis.“
Viele trauen sich Sport nicht zu
Mitte der neunziger Jahre hatte Norbert Fleischmann Gespräche geführt, mit Sponsoren, Politikern, Medien. Erst als sich die Deutsche Bahn als Sponsor anbot, sagten auch Kultusministerien ihre Unterstützung zu. Das erste Bundesfinale von "Jugend trainiert für Paralympics“ fand 2010 in Kamen-Kaiserau statt, in Nordrhein-Westfalen, wo schon seit 2003 ein vergleichbarer Wettbewerb auf Landesebene ausgetragen wurde. Etwa 500.000 Kinder und Jugendliche haben in Deutschland einen Förderbedarf, in Sportvereinen sind aber nur rund 50.000 aktiv. Viele trauen sich Sport nicht zu.
"Da ist jetzt auch eine Diskussion entstanden, unter dem Dach des DOSB gibt es eine Arbeitsgruppe, auch die Deutsche Sportjugend hat das Thema übernommen. Und das ist auch gut so, das ist auf ganz kleiner Ebene. Das heißt, man versucht mal zusammen ein Sportfest zu veranstalten. Was wir brauchen, sind viele Gespräche auf der unteren Ebene. Kreissportverbände, dort die Vereine zusammenzuholen, und auch was ich gerade eben sagte: Wo könnt Ihr euch vorstellen, zusammenzuarbeiten? Wo gibt’s Möglichkeiten? Habt Ihr es schon mal probiert? Auch der Behindertensportverband, der muss auch die Chance nutzen und sagen: wir können uns ja auch öffnen. Wir können ja auch Angebote machen für andere, wenn wir Hallenkapazitäten haben.“
Bundespräsident Joachim Gauck während der Paralympics 2012 in London. Um Schüler mit Behinderung langfristig für Sport zu begeistern, hat der Behindertensportverband das Paralympische Jugendlager ins Leben gerufen. Seit 1992 reisen Jugendliche zu den Paralympics, nun auch nach Sotschi. In London haben Talente im Alter von 14 bis 17 die Wettkämpfe besucht, auch Museen und Universitäten. Sie trafen den Bundespräsidenten, Sportler und Funktionäre. Immer wieder haben die Paralympischen Jugendlager den Weg in ehrenamtliche Positionen geebnet, in Vereine oder Verbände. Schon jetzt besteht der Vorstand der Behindertensportjugend zur Hälfte aus ehemaligen Teilnehmern des Jugendlagers. In London 2012 war auch Sabine Kuxdorf aus Marburg dabei, die Goalball-Spielerin möchte dem Sport lange erhalten bleiben.
"Und ich denke da irgendwie jeden Tag dran, an irgendeine Situation, die wir in London hatten. Ich wusste nicht, dass das einen für den Alltag so krass motivieren kann. Weil man im Training, wenn man da steht, dann denkt man irgendwie mal öfter an London zurück. Und denkt ja: Ich will auch irgendwie mal bei Paralympics mitmachen, oder generell großen Turnieren, das gibt einem echt viel mit. Es hat mir viel Teamgeist gegeben. Das man sich gegenseitig aufbauen kann. Dass man aber auch mal aussprechen kann, wenn etwas nicht funktioniert.“
Von einer Gleichstellung weit entfernt
Die Paralympics sind gewachsen, doch von einer Gleichstellung sind Sportler mit Behinderung weit entfernt. Während in Russland Oligarchen Paralympier unterstützen oder in Großbritannien Lotteriemittel in den Behindertensport fließen, muss der Deutsche Behindertensportverband sein Förderkonzept auf mehrere Säulen stellen. Der Verband fördert Medaillenkandidaten in seinem so genannten Top Team und bemüht sich um ihre berufliche Zukunft. Doch gemessen an den Möglichkeiten des Deutschen Olympischen Sportbundes bleibt der Einfluss des DBS bescheiden, weiß Karl Quade, Vizepräsident des Verbandes für Leistungssport. Quade hat als Volleyballer an drei Paralympics teilgenommen, seit 1996 leitet er das deutsche Team als Chef de Mission.
"Wo es dran hapert, ist natürlich noch die langfristige soziale Absicherung. Das Risiko, durch ein Engagement im Hochleistungssport letztlich auch auf lange Sicht benachteiligt zu werden gegenüber Konkurrenten im Berufsleben, ist immer noch groß. Und da gilt es dran zu arbeiten. Dass diese so genannte duale Karriere über die Schulen, über die Ausbildungen oder das Studium letztendlich nachwirken soll. Ich habe viel Verständnis dafür, wenn junge Menschen sich das sehr genau überlegen, wenn sie nach ihrem Jugend- und Juniorenalter wirklich auf die Karte Hochleistungssport setzen und damit wirklich langfristig Nachteile befürchten müssen.“
Manchmal wird die Basis für Leistungssport an einem Ort gelegt, wo kaum jemand damit rechnet, zum Beispiel im Kölner Stadtteil Merheim, in der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie. Tobias Fabian hatte lange Basketball gespielt, für sein Medizinstudium hat er den Sport aufgegeben. Nun als Arzt in Merheim kommt er täglich mit Sport in Berührung. Fabian berichtet von einem dreißig Jahre alten Patienten, dem ein Tonnen schwerer Stahlträger auf die Beine gefallen war. Ein Bein musste amputiert werden.
"Das ist ein junger, aktiver sportlicher Patient, der für sich selber überhaupt keine Perspektive sieht. Und da man weiß, dass Sport in der Rehabilitation ein ganz, ganz wichtiger Faktor auch für das Outcome am Ende ist, werden wir den Patienten jetzt frühzeitig mit Sportlern in Verbindung bringen. Das heißt, die Sportler kommen bei ihm ans Bett. Sie zeigen ihm, dass das Leben nicht zu Ende ist. Das ist ein Erfahrungsaustausch, den kein Arzt diesem Patienten geben kann. Wir wissen, dass eine sportliche Betätigung den Phantomschmerz reduzieren kann. Probleme, die mit der Prothese auftreten, Probleme im Rückenbereich, weil es eine ganz andere Belastung ist für den Körper, können gelindert werden, wenn man eine gute muskuläre Grundsubstanz mit auf den Weg gibt.“
Maßstäbe gesetzt
Paralympier wie die Leichtathleten Heinrich Popow und Markus Rehm geben den Patienten in Merheim Ratschläge. Ihr Verein Bayer Leverkusen hat Maßstäbe gesetzt. Geschäftsführer Jörg Frischmann pflegt ein Netzwerk mit Sponsoren, Stiftungen, Schulen oder Selbsthilfegruppen. Auch mit anderen paralympischen Vereinen der Region, um die Mittel für Talentsuche oder Werbung zu bündeln. Jörg Frischmann hat mit einer Fehlbildung an Händen und Füßen 25 internationale Medaillen gewonnen. Er hat in Leverkusen die Entwicklung vom Versehrtensport zur professionellen Förderung mit hauptamtlichen Kräften begleitet, für nun 300 Mitglieder. Auch er will das Ziel der Inklusion vorantreiben.
"Der Sitzvolleyball war bisher Behinderten vorbehalten. Und wir haben einfach gesagt: bei Europapokal- und bei Weltpokalturnieren in den Niederlanden oder in Norwegen spielen auch Nichtbehinderte Sitzvolleyball mit. Und da haben wir gesagt zum Verband: warum nicht in Deutschland? Ein Mensch, der keine Behinderung hat, hat einen Nachteil im Sitzvolleyball. Wenn der beide Beine hat, dann muss er erst mal Position finden, der kann im Block nicht so gut ranrutschen. Und dann haben wir den Antrag gestellt an den Deutschen Behindertensportverband, wie auch vorher die Rollstuhl-Basketballer oder jetzt im Torball, dass Nichtbehinderte mitspielen dürfen. Und das ist jetzt so. Und man muss sich da einfach auch vorstellen: Wenn ich eine kleine Stadt habe von 20.000 Einwohnern, wie will ich zwölf Menschen finden mit einer Beinbehinderung in so einer Stadt, die dann auch vielleicht noch Sitzvolleyball spielen?“
Die Nachwuchsförderung entwickelt sich. Jörg Frischmann hat in Leverkusen mehrfach versucht, eine Sportgruppe für Grundschüler mit Behinderung aufzubauen. Eltern haben befürchtet, dass ihre Kinder stigmatisiert werden. So wie sie es in Schulen erlebt haben. Die Chancen auf einen Ausbildungsplatz für Förderschüler sind gering, drei Viertel von ihnen schaffen nicht den Hauptschulabschluss. Jörg Frischmann ist hartnäckig geblieben. Die neue Gruppe wächst, weil die behinderten Kinder nun mit Geschwistern und Freunden aktiv sind. Auch die Eltern sind begeistert. Denn das Selbstvertrauen aus dem Sport übertragen die Kinder auch in ihren Alltag.
Blick nach Russland
Die Kritik am Inklusionsgedanken in Deutschland ist eine Kritik auf hohem Niveau. Das macht ein Blick nach Russland deutlich, den Gastgeber der anstehenden Winterspiele in Sotschi. Seit 1932 werden russische Kinder mit einer Behinderung in drei Kategorien eingeteilt. Der Staat möchte ermitteln, für welche Bildung sie in Frage kommen. Und vor allem: welche Arbeit sie später verrichten können. Russische Politiker bezeichnen das als soziale Fürsorge – für Menschenrechtler wie Hugh Willisamson ist es Diskriminierung. Williamson ist Direktor bei Human Rights Watch für die Belange in Europa und Zentralasien.
"Wir haben mit dutzenden Menschen gesprochen, die an Grenzen stoßen. Sie können den Nahverkehr nicht nutzen und öffentliche Gebäude nicht erreichen. Es fehlen Rampen, Fahrstühle, breite Türen oder Orientierungshilfen für Menschen mit eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen. Viele junge Leute können über Monate nicht ihre Wohnungen verlassen, ihnen fehlt die Unterstützung, sie sind von der Gesellschaft ausgeschlossen. Es sind praktische Schritte, die Russland zügig vorantreiben sollte, um internationale Verpflichtungen einzuhalten.“
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums leben 13 Millionen Russen mit einer Behinderung, neun Prozent der Bevölkerung. Wladimir Putins Regierung hat für den Zeitraum bis 2015 ein milliardenschweres Programm aufgelegt, um Gesundheitsversorgung und Transport zu verbessern. Human Rights Watch weist darauf hin, dass die Durchführung in den Regionen unterschiedlich verläuft, eine einheitliche Kontrolle gibt es nicht. Zudem erhalten Städte nur Mittel der Regierung, wenn sie Geld aus ihrem Etat beisteuern. Viele können und wollen sich das nicht leisten. Schulen, Universitäten und Jugendeinrichtungen sind selten vorbereitet auf Inklusion, sagt Hugh Williamson.
"Eine Sektion unseres Berichts konzentriert sich auf die rückständige Wahrnehmung der Bevölkerung, die auch durch den Staat bestärkt wird. Viele geltende Gesetze für Menschen mit Behinderung stammen aus der Sowjetzeit. Es ist Tradition, behinderte Kinder oder Erwachsene aus ihren Wohnungen zu holen und in geschlossenen Heimen unterzubringen. Diese Sonderbehandlung haben viele Länder in den vergangenen Jahrzehnten aufgegeben – in Russland ist das nicht der Fall.“
Ausgrenzung und Diskriminierung
Das Paralympische Komitee Russlands wurde 1995 gegründet. Der Präsident des Komitees ist Wladimir Lukin, ein Vertrauter Putins und Beauftragter für Menschenrechtsfragen. Viel ist nicht überliefert über das paralympische Fördersystem von Spitzensportlern. Angeblich sollen tausende Menschen mit einer Behinderung gesichtet worden sein, ähnlich war es vor den Sommerspielen in Peking 2008. In beiden Ländern gibt es im Schul- und Breitensport keine paralympischen Strukturen. Noch immer werden Behinderungen von vielen Menschen als Krankheiten wahrgenommen. Bislang gibt es in Russland kein landesweites Gesetz, das sich gegen Diskriminierung richtet. Human Rights Watch hat dutzende Fälle recherchiert: von Ausgrenzung und Diskriminierung. Ob die Paralympics diese Wahrnehmung verändern können? Philip Craven ist Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, des IPC, mit Sitz in Bonn.
"Die Paralympics sind eine besondere Gelegenheit. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft lässt sich nicht durch schärfere Gesetze verändern, sondern nur durch positive Erfahrungen. Das Wort Behindert klingt sehr negativ. Doch wenn das Fernsehen die Wettkämpfe überträgt, und wenn russische Athleten Erfolg haben, dann werden viele Menschen ihre Haltung überdenken. Die Vorbereitungen der Paralympics scheinen bisher wenig Auswirkung zu haben, aber die Spiele selbst werden zu einem Meilenstein. Wichtig ist, die Transformation voranzutreiben. Es könnte zwanzig oder dreißig Jahre dauern, um einen wirklichen Wandel zu erkennen.“
Die Olympischen Sommerspiele fanden 1980 in Moskau statt. Die Sowjetunion weigerte sich, auch die Paralympics zu organisieren. Schließlich habe es laut dem damaligen Parteichef Leonid Breschnew keine Behinderten gegeben. Die Spiele fanden im niederländischen Arnheim statt. Doch nun argumentieren die Organisatoren anders: In Sotschi soll ein menschenfreundliches Sportfest stattfinden, russische Athleten mit Behinderung sollen zu Vorbildern werden. Ob dadurch eine Nachwuchsförderung entstehen kann? Die Menschenrechtler sind mehr als skeptisch.
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