Ein Menschenrecht im Praxistest
26:30 Minuten
Jeder hat ein Recht auf Bildung - aber haben auch alle die gleichen Chancen? Oft hängt es vom Zufall ab, ob ein Kind den Sprung in die höhere Schule schafft. Und eine einzige Begegnung zum richtigen Zeitpunkt kann die Wende bringen.
Montagnachmittag am Diesterweg-Gymnasium im Berliner Bezirk Wedding. Draußen ist schönstes Frühsommerwetter, aber eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus der Oberstufe diskutiert drinnen im Klassenzimmer über das deutsche Grundgesetz, Artikel 8.
- "Was ist der Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit?"
- "Bei der Meinungsfreiheit sagst du deine Meinung frei raus, bei der Versammlungsfreiheit kann man in einer Gruppe seine Meinung kundgeben."
- "Bei der Meinungsfreiheit sagst du deine Meinung frei raus, bei der Versammlungsfreiheit kann man in einer Gruppe seine Meinung kundgeben."
Kujtim Krasniqi leitet die Grundgesetz-AG, ein freiwilliges Nachmittagsangebot. Dozierend geht der junge Mann vor der Schülergruppe auf und ab.
"Gucken wir uns den Artikel nochmal genauer an, juristisch, und gucken uns an, wen der schützt. Kannst uns einmal vorlesen?" "Artikel 8, Absatz 1: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln." "So, was ist das Problem an diesem Grundrecht: Also nur alle Deutschen – Artikel 8 ist ein so genanntes Bürgerrecht und kein Menschenrecht."
"Du wirst niemals Abitur machen, das klappt bei dir nicht"
Krasniqi, 24 Jahre alt, ist ein Vorbild für die Jugendlichen, die hier zur Schule gehen. Denn er kommt aus einem ähnlichen Milieu wie sie. Er ist auch im Berliner Bezirk Wedding aufgewachsen, er ist auch auf das Diesterweg-Gymnasium gegangen.
Fast alle, die hier über das Grundgesetz diskutieren, stammen aus sogenannten bildungsfernen Familien. Aber Krasniqi ist den anderen voraus: er hat es geschafft, er hat Abi gemacht und Jura studiert. Heute ist er stolz auf das, was er erreicht hat. Denn Mut hat ihm am Anfang keiner gemacht.
"Meine Grundschullehrerin hat immer gesagt: Du wirst niemals Abitur machen, das wird bei dir nicht funktionieren, das klappt bei dir nicht."
In der Grundschule fühlt Krasniqi sich schlechter behandelt als seine deutschen Mitschüler.
"Wenn du nicht fließend Deutsch kannst oder nicht den Wortschatz hast, den andere Mitschüler haben, dann stempelt man Leute sehr schnell als doof oder dumm ab, das macht jemanden, der sich sowieso unsicher fühlt, das macht jemanden fertig."
Zuhause wird die Muttersprache gesprochen. Nicht Deutsch.
Deutsch musste der gebürtige Albaner mühsam lernen. Erst zu Beginn der Grundschule war er mit seinen Eltern aus Mazedonien nach Berlin gekommen.
"Das ist so eine Sache, die mich in der Grundschule aufgeregt hat, dass man mir immer gesagt hat: Du musst Deutsch sprechen zu Hause. Mit wem denn? Mit wem soll ich da Deutsch sprechen, es wurde immer als etwas sehr Negatives gesehen, wenn jemand zu Hause nicht Deutsch gesprochen hat."
Die Anerkennung, die er in der Schule nicht bekam, fand er im Sport.
"Hatte das Glück, dass ich Fußball gespielt habe, da gut war, und dadurch ein gesellschaftliches Ansehen hatte, das hat mich gerettet."
Bildung ist ein Menschenrecht
So quälte er sich durch die Grundschule. Krasniqis Eltern hatten wenig Ahnung vom deutschen Schulsystem. Seine Mutter hat nur die Grundschule besucht, sein Vater die 9. Klasse beendet. Aber eines wussten sie trotzdem ganz genau: Ihr Sohn sollte es einmal besser haben als sie. Und dafür musste er aufs Gymnasium. Doch da gab es ein Problem.
"Ich habe nur eine Gesamtschulempfehlung bekommen. Ich weiß noch, wie ich damit nach Hause gegangen bin, mein Vater war total sauer, er hat gesagt: Das kann ich nicht akzeptieren, du bist schlau genug, du meldest dich trotzdem auf ein Gymnasium an. Da konnte man angeben, auf welche Schule man gehen will, und ich weiß noch, dass mein Vater gesagt hat: Du gibst dreimal Diesterweg an, weil dann müssen sie dich ja nehmen!"
Tatsächlich kam Krasniqi so auf das Diesterweg-Gymnasium und konnte sein Abitur machen. Heute erzählt er die Geschichte als lustige Anekdote, dabei war sie entscheidend für seine berufliche Entwicklung. Sein Leben hätte auch ganz anders verlaufen können, hätte der Direktor des Gymnasiums ihn damals nicht angenommen.
Dabei sollten Bildungschancen eigentlich nicht vom Zufall abhängen.
"Jeder hat ein Recht auf Bildung", so steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, so sieht es die Berliner Landesverfassung vor und so gilt es auch in anderen Bundesländern. Dennoch ist der Lebenslauf von Kujtim Krasniqi nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Chancengleichheit gab es für ihn nicht. Altersgenossen, die aus gebildeten Familien stammten und in einer anderen Gegend der Stadt aufgewachsen sind, waren ihm meilenweit voraus.
Sprachtagebücher in der Kita
In einem Kindergarten im Wedding, dem Berliner Bezirk, in dem Krasniqi groß wurde.
Melanie Holzkämper, 39 Jahre alt, sitzt mit zwei kleinen Kindern an einem Holztisch und setzt bunte Holzbausteine aufeinander. Dann wollen die Kinder lieber mit Karten spielen.
Holzkämper kommentiert jeden Schritt. Sie nennt es "alltagsintegrierte Sprachbildung". Als Fachkraft für sprachliche Bildung ist genau das ihr Job.
"Deswegen wird hier ganz viel mit Sprache begleitet: Klotz hinstellen, Klotz oben draufstellen, dass die Kinder das beim Tun lernen, beim Händewaschen: Wir nehmen jetzt die Seife, drücken auf den Knopf, dass die Seife runterkommt, dass das alles sprachlich begleitet wird, und darauf kommt es drauf an, dass die Kinder feinfühlig begleitet werden, was die Kinder interessiert."
Über das Bundesprogramm "Sprach-Kitas" haben Kindergärten, in denen mindesten 40% der betreuten Kinder nichtdeutscher Herkunft sind, Anspruch auf eine Fachkraft für sprachliche Bildung.
Die Kita, in der Holzkämper arbeitet, hat diese Bedingung längst übererfüllt: 95% der Kinder haben einen Migrationshintergrund, viele von ihnen sprechen zu Hause kein Deutsch. Das sei erstmal kein Problem, sagt Holzkämper – solange die Kinder überhaupt eine Sprache gut beherrschen.
"Können die Kinder ihre Erstsprache sehr gut, ist es für die Kinder auch einfacher eine Zweitsprache zu lernen, je früher die Kinder in die Kita kommen, umso einfacher haben sie es auch, in der Zweitsprache zu sprechen."
Dokumentiert wird die sprachliche Entwicklung der Kinder im "Sprachlerntagebuch". Ein sechsjähriger Junge mit schwarzen Haaren und Basecap zeigt mir sein Tagebuch:
"Hab ich gemalt, als ich noch klein war: Mama, Papa, ich, Opa, Oma."
Er wächst zweisprachig auf, spricht Deutsch und Bosnisch.
"Hier muss ich noch ein Bild hinmachen und hier einen Fingerabdruck, zack-zack!"
Das Buch ist ein Ringordner mit vielen Blättern, die der Junge bemalt oder mit Familienfotos beklebt hat. Das Sprachtagebuch hat eine doppelte Funktion.
"Für das Kind als Erinnerung, aber es spiegelt auch die Entwicklung des Kinder wider, besonders die Sprachentwicklung – das mag ich gern, das mach ich gern, kann man mit Kindern eine Seite gestalten und sich über die jeweilige Situation nochmals unterhält. Man kann den Eltern ganz detailliert zeigen, wie sich das Kind entwickelt hat."
Es mangelt an Personal
Holzkämper hat sich mit den Kindern zum Mittagessen hingesetzt, es gibt Nudeln mit Tomatensoße. Früher hat sie als normale Erzieherin gearbeitet. Seit ihrer Weiterbildung als Fachkraft für sprachliche Bildung hat sie mehr Zeit, Kinder bei ihrer sprachlichen Entwicklung zu begleiten. Holzkämper liebt ihren Job und die Arbeit mit den Kolleginnen in der Kita. Trotzdem glaubt sie nicht, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben.
"Es funktioniert definitiv nicht, dafür ist das Personal nicht vorhanden, um auf die Kinder 100% einzugehen, dafür ist die Ausstattung nicht vorhanden, von daher kommt es wirklich schon drauf an, wo man lebt, in welche Kita man geht, wie die Kitas ausgestattet sind."
Viele der Kinder, die sie betreut, kommen aus ihrem Bezirk kaum heraus und so wird es wohl auch erst einmal bleiben. Die Lernfortschritte, die das Kinderlerntagebuch dokumentiert, werden am Ende an die nahegelegenen Grundschulen geschickt. Spätestens dann sollten eigentlich alle Kinder ein ausreichendes Sprachniveau erreicht haben, um eingeschult zu werden. Soweit die Theorie. Denn in der Praxis gibt es auch viele Kinder, die nie eine Kita von innen gesehen haben. Und die Sprachprobleme setzen sich in der Grundschule fort.
"Auf ein Blatt gehört ein Name, auf ein Mathe-Blatt dann noch Zahlen, mehr nicht."
Überbehütet und gleichzeitig vernachlässigt
Mathematikunterricht in der Klasse 2c der Andersen-Grundschule, nicht weit entfernt von der Kita in Berlin-Wedding. 390 Kinder gehen hier zur Schule, die meisten von ihnen kommen aus sozial schwachen, bildungsfernen Familien. Lehrerin Sandrine von Stolzmann, eine resolute Mittvierzigerin, gibt den Kindern die ausgefüllten Hausaufgabenblätter zurück. Es gibt klare Regeln: keine abgerissenen Ecken, keine vollgemalten Bögen.
"So was nehme ich nicht an, war alles richtig, aber wer mir sowas abgibt, kann mir das nochmal machen, akzeptiere ich nicht."
Diese Regeln seien wichtig für die Kinder, sagt Klassenlehrerin von Stolzmann. Sie findet, die Kinder seien oft überhütet – und zugleich vernachlässigt.
"Überbehütet in dem Sinne, dass man sie daran hindert, durch alltägliche Tätigkeiten selbständig zu werden. Bei uns kommen Schüler in die Klasse, die können sich teilweise nach dem Toilettengang nicht selber reinigen. Vernachlässigen sehe ich im Sinne von individueller Förderung. Oft wird es als Liebesbeweis angesehen, wenn man seinen Kindern früh elektronische Medien kauft, die beschäftigen sich damit stundenlang, da ist niemand, der sich mit den Kindern mal über Gott und die Welt unterhält oder mit den Kindern mal am Wochenende was Schönes unternimmt.
Kommunikation ist das wichtigste
Die meisten Kinder auf der Andersen-Grundschule kommen aus armen Familien, drei von vier bekommen Zuschüsse für Schulbücher und Arbeitshefte, weil ihre Eltern nicht genug verdienen oder Transferleistungen beziehen. Für Klassenlehrerin von Stolzmann sind die fehlenden Deutschkenntnisse der Kinder ein Problem – aber nicht das größte.
"Ein Problem wird es dort, wo auch in der Heimatsprache wenig kommuniziert wird. Dann fehlen die Konzepte, die Vorstellungen von Tieren, von Weltwissen, das fehlt. Wenn das in keiner Sprache da ist, ist das ein Nachteil, der unheimlich schwer auszugleichen ist."
Dann liest von Stolzmann die tägliche Mathe-Übung vor.
"Alle bereit? 1. Aufgabe: 31+8."
"Unsere Schülerschaft ist oft sehr unselbständig, kann nicht abwarten, also mal warten, dass mal ein anderer dran ist, fällt ihnen ganz, ganz schwer. Viele haben fast schon motorische Probleme, leise zu sprechen, weil sie halt gewohnt sind, dass sie Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie schreien."
Sieben Jahre schon arbeitet Sandrine von Stolzmann als Lehrerin an der Andersen-Grundschule – und macht sich keine Illusionen, was die Bildungschancen der Kinder angeht.
"Oft ist man in seiner Klasse das einzige positive Sprachvorbild, dass mal so wie in meiner Klasse zwei, drei Kinder ein wirklich gutes Deutsch sprechen und auch ein grammatikalisch richtiges Deutsch und nicht nur ein umfangreiches Deutsch, das ist äußerst selten."
Die Mischung der Klasse stimmt nicht
Eine der wenigen Ausnahmen ist der achtjährige Janne, ein ruhiger Schüler, der ungern im Mittelpunkt steht. Er hat keine Probleme mit der deutschen Sprache, auch im Mathe-Unterricht kommt er leicht mit. Mit seinem Zwillingsbruder Karlo und seinen Eltern wohnt er nur ein paar Gehminuten von der Schule entfernt. Sein Vater ist 3D-Designer, seine Mutter Lehrerin. Die Eltern haben entschieden, ihre Kinder an die Andersen-Grundschule zu schicken – eine große Ausnahme.
Denn die meisten deutschen Akademiker-Paare, die im Kiez wohnen, schicken ihre Kinder lieber auf eine Schule im angrenzenden Pankow, wo die deutsche Mittelschicht lebt. Hagen Strauß hat sich bewusst dagegen entschieden.
"Weil wir denken, dass das wichtig ist, dass sich die Schulen auch vermischen, das Klientel auch vermischt, das nicht nur sozial Schwache in einer Schule sind und zweihundert Meter weiter in Pankow sind die einkommensstarken Familien, ich glaube, dass es wichtig ist, dass sich das vermischt, dass jeder voneinander lernen kann."
Strauß hat seine Entscheidung noch nicht bereut. Denn die Andersen-Grundschule kümmert sich um besondere Projekte, um die Schülerinnen und Schüler voranzubringen. So ist Schach in der 1. und 2. Klasse ein normales Unterrichtsfach, bei dem die Kinder Ruhe, Geduld und Durchhaltevermögen lernen sollen. Sein Sohn Janne liebt es.
Erste Schritte eines künftigen Schachexperten
"Letzte Woche haben wir das Damen-Problem angefangen."
Zu dritt sollen sie die Figuren so auf dem Brett positionieren, dass sie sich nicht gegenseitig schlagen können. Konzentriert schiebt Janne die Damen auf dem Schachbrett hin und her, die beiden Mädchen in seiner Gruppe schauen zu.
"… und Janne kontrolliert lieber nochmal, ob das auch wirklich alles so richtig ist, wie sie so stehen."
Der Junge mit den langen, blonden Haaren ist zum Schachexperten geworden. Schnell hat er die Figuren auf dem Brett in Stellung gebracht. Nun kommt die Schachlehrerin zum Kontrollieren.
- "Ist alles richtig – sollen wir das Frau Munser zeigen?"
- "Es wird mir eine Herausforderung sein, einen Fehler zu finden – korrekt, gut gemacht!"
- "Wir haben alles richtig!"
- "Es wird mir eine Herausforderung sein, einen Fehler zu finden – korrekt, gut gemacht!"
- "Wir haben alles richtig!"
Ein zufriedenes Lächeln huscht über Jannes Gesicht. Er ist stolz.
Hagen Strauß, der Vater von Janne, glaubt daran, dass es von Vorteil ist, wenn sich Kinder unterschiedlicher Herkunft in der Schule begegnen.
"Im Lernen kann ich's schwer einschätzen, zum Sozialverhalten denke ich, dass es für beide förderlich ist, also für die sprachschwachen Schüler mit unserer Kindern zu interagieren, da lernen die das besser und mehr, und andersrum finde ich auch für unsere Kinder gut zu erkennen, dass es andere Kulturen, andere Sprachen, auch anderes soziales Gefüge gibt. Das finde ich genauso wichtig."
"Wir erfüllen die Kriterien einer Brennpunktschule"
So wie der Jurist Kutjum Krasniqi, der heute an seiner ehemaligen Schule eine AG zum Grundgesetz anbietet, kommen manche der Weddinger Grundschüler später auf das Diesterweg-Gymnasium, zehn Busminuten von der Andersen-Schule entfernt.
Der joviale Schuldirektor Volker Lehmann grüßt mit kräftigem Handschlag und führt durch's Schulhaus. Er macht keinen Hehl daraus, dass die Bedingungen an seiner Schule nicht einfach sind.
"Wir erfüllen die Kriterien einer so genannten Brennpunktschule, selber hören wir das nicht so gerne, aber ist eine Tatsache, d.h. wir haben 98% Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Herkunft und 75%, die lernmittelbefreit sind. Das heißt: Elternhäuser werden durch die eine oder andere Art staatlich unterstützt."
Das Diesterweg-Gymnasium ist in einer seltsamen Situation – im Kiez gelten die Jugendlichen, die hier zur Schule gehen, vielen als Streber. Außerhalb des Weddinger Kosmos‘ ist das Gymnasium dagegen als Problemschule verschrien.
Von den Jugendlichen, die hier in der 7. Klasse das Gymnasium beginnen, schafft es etwas mehr als die Hälfte bis zum Abitur. Viele verlassen die Schule schon nach dem Probejahr wieder.
Lehmann beantwortet die Frage nach der Chancengleichheit kritisch.
"Per Gesetz ja, das wird so umgesetzt, aber ob das Individuum diese Möglichkeiten tatsächlich so nutzt, das ist eine andere Frage, also die Möglichkeit für eine Bildung heißt noch lange nicht, dass man diese Möglichkeit nutzt."
Der Staat macht also alles richtig – und Schuld sind nur die Familien?
"Das ist ziemlich zugespitzt, aber es steckt ein Stückchen Wahrheit dahinter. Wir bieten die Möglichkeiten und haben auch in den letzten Jahren unsere Haltung etwas verändert, dass wir tatsächlich aus dem Recht der Bildung ganz deutlich auch die Verpflichtung formuliert haben, dass man dieses Bildungsangebot anzunehmen hat."
Im Wedding Streber, an der Uni Looser
Am Diesterweg-Gymnasium sieht das bis zur 10. Klasse so aus: Wer hier zur Schule geht, kommt um halb acht Uhr morgens und bleibt bis um 16 Uhr am Nachmittag. Nur am Mittwoch dürfen die Schülerinnen und Schüler früher nach Hause.
Tunc, ein großer, sportlicher Junge mit Brille, sitzt im Chemieunterricht in der vorletzten Reihe und schreibt mit.
"Jetzt kommen 10 Tropfen Ammoniak dazu, und jetzt wird geschüttelt und wir beobachten wieder, was passiert. Drei Tropfen Silbernitrat ohne Schütteln, zehn Tropfen Ammoniak und schütteln."
Am Ende der Stunde erklärt der Lehrer der 8b noch einmal die Ergebnisse des Versuchs.
"Jetzt kommen ein paar Fachbegriffe, und zwar drei auf einmal: es fällt ein weißer Niederschlag aus, 'Ausfallen' ist ein Fachbegriff, Niederschlag heißt, dass es ein Feststoff gibt, wenn wir ganz genau sind, ist der nicht weiß, sondern farblos."
Dann ist Pause. Tunc drängt mit seinen Freunden auf den Schulhof. Nach der Grundschule hatte er eigentlich keine großen Ambitionen.
"Ich wollte gar nicht an ein Gymnasium, wollte mir den Stress nicht machen. Aber meine Schwester, die in der 10. ist, hat mir erzählt, dass es gar nicht so schwer sei, deswegen hat auch meine Mutter gesagt, dass sie mich hierher schickt."
Sein Freund Kadir, ein schmaler Junge mit ernster Stimme, geht mit ihm in eine Klasse. Auch er hat ein Vorbild in der Familie. Seine Schwester war hier an der Schule, hat das Abitur geschafft. Das will er auch.
"In unserem Kiez sind wir eigentlich die gebildeten Kinder, weil es eben viel schlimmere gibt. Wir sind auch recht schlaue Kinder für diesen Kiez, haben auch einen Plan, nicht so wie die anderen. Wir sind nicht auf der Straße aufgewachsen, ich kenn' sowas nicht. Ich kenne keine Gewalt, keine Kriminalität und so."
Nach der Schule will er zur Polizei, gehobener Dienst.
"Mein Vater war kurz davor, Polizist zu werden, doch er hatte eine Ohrstörung, also er kann nicht so gut hören. Also wollte ich sein Nachfolger sein, derjenige, der Polizist in der Familie wird. Meine Schwester hat den Computertest nicht bestanden, sie wollte auch Polizistin werden. Und jetzt bin ich an der Reihe."
Er glaubt, dass das funktionieren könnte.
"Wenn man ein Ziel hat, und wirklich der Wille da ist, dann schafft man's. Ich hab' auch ein bisschen Druck, im Sport, mit der Nachhilfe, aber alles geht."
Ganztagsschulen werden dankbar angenommen
Doch auch Kadirs Schulkarriere ist nicht einfach. Im Probejahr in der 7. Klasse ist er oft krank. Damit er das Schuljahr schafft, bekommt er Nachhilfe. Die Möglichkeit für die Jugendlichen, den ganzen Tag an der Schule verbringen zu können, nutzen viele aus. Für Hausaufgaben, aber auch für Arbeitsgemeinschaften wie die vom ehemaligen Schüler und heutigen Juristen Kujtim Krasniqi zum Grundgesetz.
"Das Versammlungsrecht kann man noch einschränken, werden wir nächstes Jahr sehen, wann und wie und warum."
Es ist später Nachmittag. Die Schülerinnen und Schüler packen ihre Sachen, machen sich auf den Nachhauseweg. Sie respektieren ihn, er war schließlich mal einer von ihnen. Krasniqi erinnert sich, wie schwierig es war, als er sich zusammen mit einem Weddinger Kumpel für Jura an der Uni Potsdam eingeschrieben hat.
Es ist später Nachmittag. Die Schülerinnen und Schüler packen ihre Sachen, machen sich auf den Nachhauseweg. Sie respektieren ihn, er war schließlich mal einer von ihnen. Krasniqi erinnert sich, wie schwierig es war, als er sich zusammen mit einem Weddinger Kumpel für Jura an der Uni Potsdam eingeschrieben hat.
"Da haben uns die Leute so angesehen, dann sagte der Freund zu mir: 'Kujtim, wir müssen ein bisschen vorsichtig sein, wir dürfen nicht auffallen.' Dieser kulturelle Clash war an der Uni Potsdam viel größer als am Diesterweg. Das war eine andere Welt für uns, bis zum Ende des Schuljahres haben wir immer gedacht: Der Wedding ist repräsentativ für Deutschland. Und mussten feststellen: Das ist er überhaupt nicht!"
"Woher wissen die Akademikerkinder das alles?"
Plötzlich war alles anders.
"Du fühlst dich total verloren, in den ersten zwei Semestern haben wir uns immer gefragt, woher alle Studenten immer schon alles wussten? Sie hatten diese Mentalität, das Studium zu planen, zu Hause zu arbeiten, so wie es sein muss. Das haben sie wahrscheinlich von ihren Eltern. Diese Arbeitsmoral haben sie schon von ihren Eltern! Und die hast du nicht."
Er fühlte sich fremd unter all den Akademikerkindern.
"Wenn du aus einer bildungsfernen Familie kommst, dann bist du zwar bereit, fleißig zu sein und viel zu arbeiten, das auf jeden Fall, aber du weißt nicht: Wie machst du das systematisch, das kann dir keiner sagen. Das mussten wir erstmal lernen. Bei mir hat es drei Semester gedauert, bis ich wusste, wie eine Bibliothek funktioniert."
Krasniqi hat sein Jura-Studium abgeschlossen, gerade wartet er auf einen Referendariatsplatz in Berlin. Er hat es geschafft, aber von sich will er trotzdem nicht auf andere schließen. Wer in eine bildungsferne, sozial schwache Familie hineingeboren wird, hat dasselbe Recht auf Bildung wie alle anderen. Es wahrzunehmen ist aber ungleich schwerer.
"Es ist nicht so, dass es unmöglich ist, es ist alles möglich! Aber das Risiko zu scheitern ist einfach viel höher."