Bilderbücher

Graphic Novels beleben den Buchmarkt

Moderation: Shelly Kupferberg |
Das Genre der Graphic Novel geht weit über den Comic hinaus. Der Autor Reinhard Kleist etwa war im Irak und hat über seine Erlebnisse dort eine Comic-Reportage gemacht. Wir präsentieren herausragende Graphic Novels.
Shelly Kupferberg: Inzwischen gibt es viele Comic-Verlage, die sich auf die Graphic Novel spezialisiert haben. Und auch herkömmliche Verlagshäuser beschäftigen sich in eigenen Reihen mit dem illustrierten Roman oder dem Comic-Roman. Wie unterschiedlich Graphic Novels thematisch und in der Gestaltung ausfallen können, das zeigen auch diverse Neuerscheinungen. Einige haben wir uns heute für die Lesart ausgesucht und stellen sie Ihnen in dieser Sendung vor, und zwar zusammen mit Reinhard Kleist – selber Autor, Comic-Zeichner und Illustrator mehrerer preisgekrönter Graphic Novels. Herzlich willkommen Reinhard Kleist.
Reinhard Kleist: Ja, danke.
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Der Autor Reinhard Kleist© privat
Shelly Kupferberg: Was schätzen Sie denn persönlich so sehr an diesem Genre, an der Graphic Novel?
Reinhard Kleist: Am Comic allgemein finde ich einfach großartig, dass diese Bilderbücher einen sofort in eine Geschichte reinziehen. Man schlägt so ein Ding auf und ist sofort in der Geschichte drin. Das finde ich schon ganz faszinierend. Und es gibt Leseerlebnisse, die ich immer wieder gerne zitiere. Das ist zum Beispiel so ein Buch über den Guerillakampf in Nicaragua. Das habe ich auf der Zugfahrt von Hamburg nach Berlin gelesen und war während dieser Zugfahrt quasi im Dschungel. Das sind so Leseerlebnisse, die ich einfach großartig finde.
Shelly Kupferberg: Jetzt haben Sie gerade schon gesagt, was Sie an Comics so toll finden. Gibt’s denn für Sie einen Unterschied zwischen dem Comic und der Graphic Novel?
Reinhard Kleist: Also, Graphic Novel ist eine Einordnung, damit man ungefähr weiß, in welche Richtung das geht: gerne ernsthaftere Themen, gerne schwarz-weiß oder für Erwachsene, das muss aber nicht sein. Es ist eine Richtlinie. Es soll ein bisschen den Lesern halt erklären, das ist jetzt nicht unbedingt lustig, sondern es richtet sich eher an erwachsene Leser, die auch sich mit Stoffen konfrontiert sehen möchten, die vielleicht was Historisches haben oder einen Reportageteil. Es sind trotzdem Comics.
Shelly Kupferberg: Um vielleicht ein paar Beispiele zu geben, Sie selber haben Graphic Novels oder Comic-Biographien über Jonny Cash und Elvis Presley herausgebracht. Erst kürzlich haben Sie für Ihre Graphic Novel "Der Boxer" den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Sachbuch erhalten.
Das ist eine ziemlich packende Überlebensgeschichte eines Boxers, der unter den Nazis ins KZ kam, floh und dann in den USA als Profiboxer arbeitete.
Sie waren kürzliche erst im Nordirak unterwegs. Wie kann man sich das vorstellen? Sind Sie immer ausgerüstet mit einem Skizzenblock und machen sich Notizen und kleine Skizzen?
Reinhard Kleist: Im Grunde genommen ja. Das ist ein Projekt mit Arte gewesen, wo ich geholt wurde, weil ich über ein Flüchtlingslager eine Art Comic-Reportage machen soll. Kawergosk heißt das, das ist im Norden von Irak in der Nähe von Arbil, da sind syrische Kriegsflüchtlinge.
Das sah dann so aus, dass ich da nur mit meinem Skizzenbuch durchs Lager gelaufen bin, mit einem Übersetzer, und habe dann Zeichnungen gemacht, hab mich immer schön zum Tee einladen lassen und hab dann die Geschichten von den Leuten gehört und hab dann auch Skizzen von den Leuten gemacht, was zum Teil sehr lustig gewesen ist.
Shelly Kupferberg: Warum?
Reinhard Kleist: Die haben schon gelacht da drüber, wie ich sie gesehen habe. Manche sagten auch, na ja, so sehe ich aus? Aber im Grunde, es war eine großartige Erfahrung.
Shelly Kupferberg: Aber da sind wir ja schon bei einem Knackpunkt. Wie sehr halten Sie sich tatsächlich an das Detail? Wie viel ist künstlerische Interpretation, die Sie da reinstecken?
Reinhard Kleist: Da versuche ich erstmal alles so abzubilden, wie ich es sehe. Das muss zum Teil auch wirklich schnell gehen. Ich hab so was Ähnliches auch mal in Kuba gemacht. Da ist dann das Buch "Havanna" draus geworden. Da bin ich auch durch die Straßen gelaufen, hab mich mit Leuten getroffen und hab Zeichnungen gemacht. Und das war dann eigentlich eher immer so, dass man vorher sich das Objekt rausgesucht hat und überlegt hat, so, das möchte ich jetzt gerne zeichnen. Und dann muss man das relativ schnell machen.
Und die Auswertung nachher, die passiert ja erst im Studio, also bei mir im Atelier, wo ich dann die Sachen nochmal bearbeitet habe und wo diese Skizzen dann auch eingearbeitet werden.
Shelly Kupferberg: Auffällig finde ich, dass in den letzten Jahren viele Graphic Novels über Krisengebiete und Kriegsgeschichten herausgekommen sind. – Reines Marketing, um der Graphic Novel noch ein bisschen Ernsthaftigkeit zu verleihen? Oder bietet sich die Graphic Novel einfach besonders dafür an?
Reinhard Kleist: Es bietet sich einfach sehr an. Comics haben den Vorteil, dass sie eine sehr persönliche Sicht bieten. Und das wollen viele Leser auch haben. Es geht darum, dass ich als Künstler darüber berichte, nicht als Dokumentarfilmer, sondern als Künstler, der das dann verarbeitet und aus seiner Sicht der Dinge zeigt. Der Autor bringt ja durch die Auswahl, und auch wie er das erzählt, eine persönliche Sicht da rein. Und im besten Falle ist es auch so, dass auch die ganz eigene Geschichte des Zeichners eine Rolle spielt.
Bei mir war das so in dem Havanna-Band. Da habe ich meine Auseinandersetzungen mit dem Regime eingebaut, was mir gefallen hat, und dann auch wieder das, was mir nicht gefallen hat.
Shelly Kupferberg: Und das hat natürlich was sehr Reportagenhaftes, was sehr Unmittelbares.
Wir kommen jetzt zu unserem ersten Buch, das wir Ihnen in der Lesart heute vorstellen, eine Graphic Novel mit dem Titel "Ein iranischer Albtraum". Geschrieben hat sie ein politischer Cartoonist aus dem Iran, Mana Neyestani. Und er erzählt sein eigenes Leben.
Mana Neyestani: "Ein iranischer Albtraum"
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Cover: Mana Neyestani: "Ein iranischer Albtraum"© Edition Moderne - Verlag für Graphic Novels und Comics

Mana Neyestani: "Ein iranischer Albtraum"
Edition Moderne, Zürich 2013
208 Seiten, 24 Euro
ISBN 9783037311066

Shelly Kupferberg: Reinhard Kleist, eine wirklich verrückte und sehr eindringliche Geschichte, wie ich finde, in der Gegenwart erzählt, schwarz-weiß gehalten. Was ich so spannend fand jenseits dieser Geschichte, hier werden auch zwischendurch Gefühle in Szene gesetzt. Zum Beispiel wird der Verhörer im Laufe des Verhörs zum Teufel. Er mutiert in den Augen des Gefangenen. Wir sehen den Gefangenen, der sich fühlt wie auf Schienen festgebunden. Und er sieht in der Ferne schon einen Zug anrollen. All diese Dinge zeigen seine Hilflosigkeit und seine Gefühle auf – eigentlich das, was man so zwischen den Zeilen lesen würde. – Wie eindringlich fanden Sie diese Lektüre?
Reinhard Kleist: Wahnsinnig eindringlich. Ich musste mich erstmal ein bisschen an diesen Zeichenstil gewöhnen, dieses Skizzenhafte mit der Kreuzschraffur und die Gesichter, die eher aus der politischen Karikatur kommen, wo der Mann ja auch herkommt. Er ist ein wahnsinnig guter Erzähler, dieser Mann. Ich hab ihn vor Kurzem in Paris kennengelernt. Und was der Mann hier macht, das ist wirklich eine ganz große Art und Weise mit den Möglichkeiten von Comic zu spielen.
Shelly Kupferberg: Wir haben dieses Buch auch gerade vorliegen. Und wenn man drin rum blättert, Sie haben vollkommen Recht. Die politische Karikatur, an die erinnert es. Und die Gesichter sehen manchmal verzerrt, so als würde er sich auch lustig machen über diese Leute. Wann berühren uns Graphic Novels? Wann gelingt das? Haben Sie das Geheimrezept raus?
Reinhard Kleist: Nein, genauso wie im Film eigentlich nicht. Es gibt Filme, die versuchen einen wahnsinnig zu berühren und sie tun es nicht. Also, dieser Comic hat mich wirklich gefangen genommen. Ich hab da mit dem Kerl mitgezittert und wollte, dass der da wieder rauskommt aus dieser Situation. Und er schafft es, einen wirklich zu packen und mitzunehmen in diese unhaltbare Situation.
Er ist ja er selber. Also, er hat diese Gefühle alle erlebt. Und diese Gefühle, die setzt er in Bilder um.
Shelly Kupferberg: Können Sie uns ein Beispiel geben?
Reinhard Kleist: Na, es gibt ja zum Beispiel das Bild, was ich jetzt gerade aufgeschlagen habe, wo er auf einer Insel sitzt in einem Meer. Und das schildert natürlich ganz toll diese Verlorenheit, die er da erlebt hat.
Shelly Kupferberg: Mitten im Gefängnis.
Reinhard Kleist: Ja, mitten im Gefängnis. Da braucht es gar nicht viele Worte. Es gab manchmal Situationen, wo ich mir gewünscht habe, Mann, lass doch mal die Worte weg. Also, die Bilder sind so stark, dass es die vielen Dialoge eigentlich nicht wirklich braucht.
Shelly Kupferberg: Sie sagten schon, das ist eine selbstreferenzielle Geschichte. Hat das eigentlich Vorteile, der Mensch, der da erzählt, ist selber der Cartoonist, dem das widerfahren ist?
Reinhard Kleist: Absolut, ja. Es hat große Vorteile. Er hat ja alles mitgemacht. Und er erzählt auch wirklich aus dieser Perspektive. Man verlässt nie die Perspektive von ihm. Und das hat auch diese Sogwirkung zur Folge. Und alle Gefühle, alle Regungen, alle Emotionen, sind natürlich sehr direkt. Und so eine Unmittelbarkeit, das kriegt der Leser schon mit.
Shelly Kupferberg: Wir kommen zum nächsten Buch. Die Autoren Mark Long, Jim Demonakos und Nate Powell haben sich für ihre Graphic Novel mit einem Teil der US-amerikanischen Geschichte auseinandergesetzt. Wie und warum, das erfahren wir jetzt.
Mark Long, Jim Demonakos, Nate Powell: "Das Schweigen unserer Freunde"
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Mark Long, Jim Demonakos, Nate Powell: "Das Schweigen unserer Freunde"© Egmont Graphic Novel

Mark Long, Jim Demonakos, Nate Powell: "Das Schweigen unserer Freunde"
213 Seiten; 14,99 Euro
Egmont Graphic Novel
ISBN: 9783770437290

Shelly Kupferberg: Dieses letzte Zitat aus der Graphic Novel, "Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde", das ist ein Zitat von Martin Luther King. Mit seiner Ermordung endet auch die Graphic Novel. Erschienen ist "Das Schweigen unserer Freunde" im Egmont Verlag und kostet 14,99 Euro. Das Buch hat 213 Seiten.
Reinhard Kleist, auch in der eben vorgestellten Graphic Novel wurde auf eine wahre Geschichte, auf wahre Begebenheiten Bezug genommen, auf autobiographische sogar. Der Vater des Autors ist jener Fernsehreporter, dessen Geschichte erzählt wird. Rein stilistisch, wie wurde hier gearbeitet?
Reinhard Kleist: Das ist nun ein recht traditioneller Zeichenstil, den er hier anwendet. Das sind Comic-Zeichnungen mit so ein bisschen Grauflächen dabei. Ich vermute mal, dass das hier mit Aquarell gemacht worden ist.
Shelly Kupferberg: Die Autoren haben sich für eine sehr stringente dokumentarische Erzählweise entschieden. Ab und zu sieht man mal Vergrößerungen kleiner Details oder auch, wenn der Fernsehreporter die Kamera hinhält, dann schauen wir mit ihm durch die Kamera. Ich habe mich gefragt: Wie wichtig ist eigentlich das Kästchen im Comic?
Reinhard Kleist: Das Kästchen ist natürlich sehr wichtig. Das ist eine Hilfe für den Leser, über eine Seite rüber zu kommen und eine Strukturierung der Seite zu machen. Ganz oft brechen die Zeichner hier das Kästchen auf. Hier sehe ich gerade so eine Seite. Da geht, unten, eine Frau mit einem Pferd aus dem Bild heraus.
Shelly Kupferberg: Da ist die Bewegung sozusagen im Layout.
Reinhard Kleist: Ja, die nutzen auch dieses Layout, diese strengen Vorgaben, um damit dann zu arbeiten.
Shelly Kupferberg: Im "iranischen Albtraum" spielt der Cartoonist sogar mit diesem Rahmen. Er darf sich nicht außerhalb des Rahmens bewegen. Aber er sprengt ihn immer wieder. Also, man kann damit auch richtig stilistisch spielen, wenn man möchte.
Reinhard Kleist: Ja, und erzählerisch vor allem.
Shelly Kupferberg: Eine starke Geschichte, die Sie berührt hat?
Reinhard Kleist: Die Geschichte ist schon sehr stark. Ich hatte beim Lesen manchmal ein bisschen Schwierigkeiten mit der Story. Sehr viele Dialoge waren mir doch sehr, sehr gewollt und das war alles ein bisschen hingebogen. Und hinter jeder Szene bemerkte man so eine Absicht. So, jetzt kommt diese Szene, weil sie uns damit zeigen wollen, dass… Das war mir manchmal ein bisschen zu – wie soll man sagen – didaktisch. Also, die machen sich ja schon auch eine wahnsinnige Arbeit damit, um uns diese Zeit nahe zu bringen, um uns in diese Zeit mitzunehmen…
Shelly Kupferberg: …das sieht man dann an den Klamotten oder an den Fernsehbildern…
Reinhard Kleist: …das sieht man an Klamotten und Fernsehbildern und an den Details im Hintergrund. Aber die Geschichte hat mich doch nicht wirklich richtig gefangen genommen. Und das hat sehr viel damit zu tun, dass die Figuren keine wirklichen Charaktere zu haben scheinen. Die haben immer irgendwie so was wie Spielfiguren, die er jetzt da hingestellt hat, weil sie einem bestimmten Zweck dienen. Und das hat mich nicht wirklich gefangen genommen.
Shelly Kupferberg: Von den USA geht es jetzt weiter nach Europa. Die nächste Neuerscheinung führt uns nämlich auf eine persönliche Spurensuche zwischen Frankreich und Deutschland.
Florent Silloray: "Auf den Spuren Rogers"
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Florent Silloray: "Auf den Spuren Rogers"© Avant-Verlag

Florent Silloray: "Auf den Spuren Rogers"
Avant-Verlag, Berlin 2013
112 Seiten, 24,95 Euro
ISBN: 9783939080855

Shelly Kupferberg: Reinhard Kleist, die Comicseiten in "Auf den Spuren Rogers" muten fast ein wenig wie Aquarelle an, finde ich. Welchen Eindruck vermitteln diese Zeichnungen auf Sie?
Reinhard Kleist: Das sind Aquarellzeichnungen, auf jeden Fall. Diese Zeichnungen, die er hier gemacht hat, wo er zum Teil auch in Brandenburg unterwegs gewesen ist, die haben etwas Skizzenhaftes, als ob er mit dem Block da gesessen hätte und das gezeichnet hat. Also, offensichtlich hat er ganz viele Fotos gemacht. Und er verbirgt das ja nicht, dass er nach diesen Fotos gearbeitet hat. Und dabei sind sehr realistische farbige Sachen herausgekommen, die dann auch das etwas düstere Wetter gut widerspiegeln.
Shelly Kupferberg: Plastisch wird die Geschichte auch dadurch, dass am Ende des Buches die Originalfotos und Tagebuchaufzeichnungen des Großvaters abgebildet worden sind. Wie interessant ist für Sie der Umgang mit authentischem, mit dokumentarischem Material? Auch Sie haben das bereits gemacht in dem "Boxer". Hinten gibt es einige wenige Originaldokumente, die man noch im Anhang finden kann.
Reinhard Kleist: Also, bei mir ist es so gewesen, dass ich sehr, sehr wenig Fotomaterial von dem Boxer Hertzko Haft hatte, weil es einfach nicht viel gibt. Hier ist es so, dass das Fotomaterial schon recht umfangreich ist. Und dann gibt es hier hinten ja diesen Anhang, wo man auch die Seiten sieht, diese eng mit Bleistift beschriebenen Tagebuch-Seiten.
Und er hat diese Farbstimmung auch rübergeholt in seine Zeichnungen von den Erlebnissen von seinem Großvater. Dieses Vergilbte, ja, diese Bilder haben etwas von vergilbten Fotos. Und ich finde, er hat den Übergang zwischen der heutigen Erzählung, der Rahmenhandlung, in die Erzählung mit den Fotos von seinem Großvater wunderbar gelöst. Da gibt’s eine ganz großartige Szene, wo er in der Gegenwart auf eine Tür zugeht. Die Kamera geht an diese Tür ran. Dann gibt’s einen Schnitt und dann sehen wir diese Tür, wie sie damals ausgesehen hat. Und dann ist man in der Erzählung drin, die 1941 spielt. Das ist ganz großartig gelöst.
Shelly Kupferberg: Ich find das interessant, dass Sie von "Kamera" sprechen. Sehen Sie das tatsächlich so, als würden Sie durch eine Kamera schauen?
Reinhard Kleist: Also, bei mir ist es so: Ich arbeite bei meinen Comics sehr filmisch. Für mich ist das immer eine Umsetzung von einem Film, der bei mir im Kopf abläuft, in eine Bildsequenz. Und das machen auch sehr viele Kollegen von mir. Wir sprechen deshalb immer in Termini vom Film: Kamerabewegung, Schnitt. Das hat sehr viel damit zu tun.
Shelly Kupferberg: Wir machen jetzt auch einen Schnitt und kommen zu einer israelischen Comic-Zeichnerin. Rutu Modan heißt Sie. "Das Erbe" heißt ihre Geschichte.
Rutu Modan: "Das Erbe"
Rutu Modan: "Das Erbe"
240 Seiten; 24,90 Euro
Carlsen Verlag
ISBN: 9783551785763
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Rutu Modan: "Das Erbe"© Carlsen Verlag
Shelly Kupferberg: Verspielte Zeichnungen, Reinhard Kleist, ein wenig stilisiert, keinerlei Schattierung finden sich hier. Die Augen der Menschen sind lediglich kleine Pünktchen. Dennoch übertragen sich Emotionen beim Lesen und Anschauen. Wie funktioniert das? Wissen Sie das?
Reinhard Kleist: Die Zeichnerin Rutu Modan hat einen Stil, der sich an Ligne clair anlehnt: Es gibt sehr, sehr kontrollierte Linien. Und die sind dann farblich gefüllt. Das ganze Album ist ja farbig. Und es transportier schon echt eine schöne Stimmung. Und die hat einen ganz besonderen Trick in ihren Zeichnungen, um die auch sehr realistisch wirken zu lassen, obwohl die so reduziert sind: Sie arbeitet mit Schauspielern, sie spielt diese Geschichte mit diesen Schauspielern quasi nach und fotografiert die dann.
Shelly Kupferberg: Ah ja, Sie haben gerade auch das Filmische angesprochen, was Sie selber in irgendeiner Weise immer wieder mit reinbringen, wenn Sie eine Graphic Novel konzipieren. Und Rutu Modan hat das also in die Tat umgesetzt? Hab ich Sie richtig verstanden?
Reinhard Kleist: Im Grunde genommen, ja. Und das transportiert sich eigentlich wirklich sehr, sehr gut. Also, als ich das Ding gelesen habe, das lief dann auch für mich irgendwann wie so ein Film ab. Ich war dann wirklich in dieser Geschichte auch drin. Sie transportiert schon sehr direkt die Atmosphäre.
Shelly Kupferberg: Rutu Modan kommt ohne Bilder der Vergangenheit in ihrer Geschichte aus, ganz anders als "Auf den Spuren Rogers", über das wir vorhin schon gesprochen haben. Alles spielt im Hier und Jetzt. Ist das eine Stärke oder eine Schwäche in diesem Fall?
Reinhard Kleist: Das ist eine absolute Stärke. Sie verlässt nie die Erzählung. Es wird nie ein Cut in die Vergangenheit gemacht, sondern man ist die ganze Zeit bei den Akteuren im Hier und Jetzt. Und das ist eigentlich das Faszinierende dabei, dass man trotzdem so viel über die Vergangenheit erfährt. Und diese Figuren, die werden eigentlich sehr lebendig, besonders die alte Dame. Die ist wirklich Klasse. Also, die hat wirklich so dieses Ruppige, das ist echt ein Charakter.
Shelly Kupferberg: Das ist ein Charakter. Die ist sehr renitent. Vielleicht ein Beispiel: Sie weigert sich, eine frisch gekaufte volle Wasserflasche an der Security am Flughafen abzugeben, weil sie sagt, sie hat das Recht auf Wasser. Und dann trinkt sie diese Ein-Liter-Flasche aus und alle anderen müssen hinter ihr warten und regen sich auf. Und sie besteht drauf.
Reinhard Kleist: Ja, großartig.
Shelly Kupferberg: Was mir auch sehr gefallen hat, ist, es geht um dieses ominöse Erbe auf der einen Seite, um Geschichte, um Holocaust, um Krieg, um Verletzungen, aber es geht auch mit viel Witz und Humor um dieses Shoa-Business. Da ist eine Schulklasse zum Beispiel im Flieger von Israel nach Polen unterwegs, um sich KZs anzuschauen und freut sich schon darauf und ist ganz aufgeregt. Also auch der Umgang mit diesem ganzen Erbe, mit den unterschiedlichen Erben wird auch ein bisschen auf die Schippe genommen.
Reinhard Kleist: Ja, absolut. Es gibt ja auch diese Szene, wo sie dann in den Straßen von Warschau sind. Und dann gerät die Mika, dieses junge Mädchen, gerät dann in ein inszeniertes Rollenspiel, wo Touristen mit Judenaufnähern so eine Verhaftung durch Nazis beigebracht werden soll. Und das ist dann schon auch interessant zu gucken, wie sie als Israelin die Aufarbeitung der Geschichte in Europa sieht.
Shelly Kupferberg: Und so hat man ganz viele Schichten eigentlich in dieser Geschichte "Das Erbe".
Zum Schluss der Sendung, Reinhard Kleist, bitte ich Sie noch um einen Buchtipp. Was empfehlen Sie uns?
Will Eisner: "Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten"
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Will Eisner: "Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten"© Carlsen Verlag

Will Eisner: "Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten"
Carlsen Verlag, Hamburg 2013
528 Seiten, 36 Euro
ISBN: 9783551750440

Reinhard Kleist: Na, ich bin ja ein ganz großer Bewunderer von Will Eisner. Es gibt diese großartigen Geschichten von ihm über New York, auch über das Viertel, wo er lange Zeit gewohnt hat. Es gibt diese Geschichten gesammelt in einem Band. Der heißt "Ein Vertrag mit Gott". Und das ist ganz große Kunst. Also, erzählerisch ist das wirklich für mich einer der Größten.
Shelly Kupferberg: Der Comic-Zeichner und Autor Reinhard Kleist empfiehlt also Will Eisner, "Vertrag mit Gott", bei Carlsen erschienen. Danke Reinhard Kleist für Ihren Besuch hier bei uns in der Lesart im Deutschlandradio Kultur.
Reinhard Kleist: Vielen Dank.
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