Bilder im Kopf

03.09.2010
Sadie Jones' Protagonist wird in den 50er-Jahren nach Zypern versetzt und lernt dort die hässliche Fratze des Krieges kennen. "Kleine Kriege" lässt sich als Parabel lesen. Der Roman verdeutlicht, was an vielen Kriegsschauplätzen - von Gaza bis Afghanistan - gerade passiert.
Kriege, die nicht zwischen regulären Armeen moderner Staaten ausgefochten werden, in denen das Kräfteverhältnis asymmetrisch ist und in denen auch Zivilisten kämpfen, nennt man "Kleine Kriege". Es gibt sie seit Jahrhunderten, doch vor allem heutzutage sind sie an der Tagesordnung. "Kleine Kriege" ist Titel des neuen Romans der Britin Sadie Jones. Er spielt zum überwiegenden Teil - wie schon ihr fulminanter Debütroman "Der Außenseiter" - in den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Die Autorin wählt als Schauplatz ihrer Handlung Zypern. Die kleine Insel im Mittelmeer war von 1925 bis 1960 britische Kronkolonie. Ihr Held, der junge britische Major Henry Treherne, wird nach eher ereignislosem Dienst im besetzten Deutschland dorthin versetzt. Für ihn eine Herausforderung, ersehnte Gelegenheit, sein Können als Soldat unter Beweis zu stellen. Denn auf der Insel führt die griechischstämmige Bevölkerung einen zunehmend gewalttätigen Kampf um die Vereinigung mit dem Mutterland. Immer wieder sind Briten Opfer von Guerillaangriffen und Bombenattentaten. Aus einer Familie von Militärs stammend, dient Treherne gerne, glaubt an sein Land, das Empire und seinen Beruf. Als Kommandeur eines Bataillons lebt er mit seiner Frau Clara und den kleinen Zwillingstöchtern auf einer Militärbasis.

Sadie Jones beschreibt den Alltag im Camp. Sich wiederholende Abläufe, Rituale zwischen Küche und Kasino, Appellen und Affären. Doch je mehr die Brutalität der Auseinandersetzungen zwischen Briten und einheimischer Bevölkerung zunimmt, desto stärker entfremden sich Henry und seine Frau voneinander. Er wird mit traumatischen Situationen konfrontiert - und kann nicht darüber sprechen. Er erfährt den Rausch des Tötens, aber auch dessen Sinnlosigkeit, erlebt Folter und Mord, Vergewaltigung und Verrat. Sein Selbstbild gerät ins Wanken, ebenso sein Glaube an die Mission und die Moral der Armee. Als Clara ihm sagt, dass sie schwanger ist, schiebt er sie in die Hauptstadt der Insel ab. Er verschließt sich immer mehr und erst als seine Frau Opfer eines Attentats wird, erkennt er, dass sein Leben aus der Bahn gelaufen ist. Er desertiert – und muss sich, zurück in England, doppelten Schuldgefühlen stellen. Seine Frau, aber auch seine Soldaten im Stich gelassen zu haben, macht ihn hilflos.

Sadie Jones beschreibt einen Zustand, der heute als posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert würde. Sie erzählt in der dritten Person, doch so dicht am Innenleben ihres Protagonisten, dass selbst dessen Schweigen für den Leser äußerst beredt ist. Die enorme Spannung, unter der die Figuren des Romans stehen, überträgt sich und macht seine intensive Atmosphäre aus. Die sinnliche Schönheit der Mittelmeerinsel, Gefühle von Leidenschaft und Zerrissenheit sind ebenso berührend geschildert wie Schmerz und Einsamkeit der Figuren. Die Autorin moralisiert nicht. Fast lakonisch beschreibt sie die Logik einer Militärmaschinerie und was mit denjenigen geschieht, die sich ihr unterwerfen oder widersetzen.

Die Handlung des Romans ist eine historische. Auslöser, ihn zu schreiben aber waren Berichte eines britischen Soldaten, der den Dienst im Irak verweigerte. "Kleine Kriege" lässt sich als Parabel lesen. Der Roman verdeutlicht, was an vielen Kriegsschauplätzen, von Gaza bis Afghanistan, gerade jetzt, passiert. Und auch, dass kein Krieg so klein ist, dass er nicht den Verstand verwirren und das Herz verwüsten kann.

Besprochen von Carsten Hueck

Sadie Jones: Kleine Kriege
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walizek
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt/Main 2010
448 Seiten, 22,95 Euro

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Alles andere als ländliche Idylle - Sadie Jones: "Der Außenseiter"
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