Alles andere als ländliche Idylle
In Großbritannien ist er einer der größten Verkaufserfolge dieses Sommers. In ihrem Debütroman "Der Außenseiter" schreibt die Britin Sadie Jones vom gleichförmigen Leben auf dem Land im England der 50er Jahre. Der Anti-Held ihrer Geschichte konterkariert die korrupte Gemeinschaft, die ihn umgibt, ohne selbst makellos zu sein.
"The outcast", "Der Außenseiter", heißt der Debütroman der 40-jährigen Britin Sadie Jones. In Großbritannien einer der größten Verkaufserfolge dieses Sommers, erscheint der Roman nun auch in Deutschland. Die Autorin, Tochter eines in Jamaica geborenen Schriftstellers und einer englischen Schauspielerin, wuchs in London auf. Die Handlung ihrer Geschichte siedelt sie unweit der britischen Metropole, im Milieu der "landed gentry" an: In der südenglischen Grafschaft Surrey, die bekannt ist für landschaftliche Schönheit und den Wohlstand ihrer Einwohner. Häufig arbeiten diese als Pendler in London und pflegen nach Feierabend ein beschauliches Landleben.
So auch im Roman von Sadie Jones.
Sie führt den Leser zurück in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, das Kleinstadtleben auf dem Land von festen Ritualen geprägt - Routine zwischen Wochenendkirchgang und abendlichen Cocktails. Die Autorin entwirft das facettenreiche Geflecht einer konformen Gesellschaft, die nach außen hin keine Abweichungen duldet. Man spielt regelmäßig Tennis, lädt sich ein, plaudert nett und belanglos, kaschiert berufliche Abhängigkeiten mit oberflächlicher Kumpanei. Dabei sind jedoch genauso Ausbrüche sadistischer und masochistischer Gewalt, Einsamkeit und Alkoholismus feste Bestandteile im Familienalltag der Protagonisten.
Am faszinierendsten ist Lewis, der Anti-Held der Geschichte. Er konterkariert die verlogene und korrupte Gemeinschaft, die ihn umgibt, ohne selbst makellos zu sein. Im Alter von zehn Jahren hat Lewis bei einem Badeunfall seine Mutter verloren. Für Trauer, Ohnmacht, Wut und Verzweiflung jedoch gab es nie Raum. Schuldgefühle und die Unnahbarkeit seines Vaters quälen ihn zusätzlich. Er fühlt sich fremd in der Welt. Nachbarn und Verwandte behandeln den verschlossenen Jungen wie einen Außenseiter. Dementsprechend empfindet sich Lewis als solcher. Er neigt zu Gewaltausbrüchen. Beginnt zu trinken und ritzt sich in autoaggressiven Schüben wiederholt die Arme auf. Als er eines Tages die Kirche des Ortes in Brand setzt, wird er verhaftet und für zwei Jahre ins Gefängnis gesperrt. Nach seiner Rückkehr ist er fest entschlossen, ein angepasstes Leben zu führen. Aber nicht nur die Affäre mit seiner Stiefmutter lässt die Situation erneut eskalieren.
Sadie Jones folgt mit ihrem Roman einer Traditionslinie, die vom psychologisch-realistischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts bis zu den dramatischen Erzählungen Ian McEwans verläuft. Aus der Position der allwissenden Erzählerin schildert sie die Gefühle des persönlichkeitsgestörten Lewis und seines um einige Jahre jüngeren, weiblichen Pendants Kit ebenso subtil und überzeugend wie die seelischen Qualen der Erwachsenen.
Die Autorin beschreibt die Vorgänge aus der Perspektive ihrer Figuren, ohne als deren Schöpferin den Überblick zu verlieren. Immer wieder überrascht sie mit neuen Wendungen, so dass auf über 400 Seiten keine Sekunde Langeweile aufkommt. Psychologisch konsequent entwickeln sich ihre Protagonisten, und selbst Nebenfiguren erhalten ein eindrückliches Profil. Häufig offenbaren schon einzelne Sätze die Tiefendimension einer Szene, reißen schlagartig Bedeutungshintergründe auf. Sadie Jones’ Landschafts- und Stimmungsschilderungen ziehen in den Bann, ihre Dialoge sind klar konturiert und dabei voller Leben. Kein Wort zuviel, keines zu wenig. Es ist nicht verwunderlich, dass Sadie Jones mit ihren Drehbüchern nie Erfolgt gehabt hat. Wer so schreibt, ist einfach zu gut fürs Kino.
Rezensiert von Carsten Hueck
Sadie Jones: "Der Außenseiter".
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.
Schöffling Verlag, Frankfurt/M. 2008, 410 Seiten, 22,90 EUR
So auch im Roman von Sadie Jones.
Sie führt den Leser zurück in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, das Kleinstadtleben auf dem Land von festen Ritualen geprägt - Routine zwischen Wochenendkirchgang und abendlichen Cocktails. Die Autorin entwirft das facettenreiche Geflecht einer konformen Gesellschaft, die nach außen hin keine Abweichungen duldet. Man spielt regelmäßig Tennis, lädt sich ein, plaudert nett und belanglos, kaschiert berufliche Abhängigkeiten mit oberflächlicher Kumpanei. Dabei sind jedoch genauso Ausbrüche sadistischer und masochistischer Gewalt, Einsamkeit und Alkoholismus feste Bestandteile im Familienalltag der Protagonisten.
Am faszinierendsten ist Lewis, der Anti-Held der Geschichte. Er konterkariert die verlogene und korrupte Gemeinschaft, die ihn umgibt, ohne selbst makellos zu sein. Im Alter von zehn Jahren hat Lewis bei einem Badeunfall seine Mutter verloren. Für Trauer, Ohnmacht, Wut und Verzweiflung jedoch gab es nie Raum. Schuldgefühle und die Unnahbarkeit seines Vaters quälen ihn zusätzlich. Er fühlt sich fremd in der Welt. Nachbarn und Verwandte behandeln den verschlossenen Jungen wie einen Außenseiter. Dementsprechend empfindet sich Lewis als solcher. Er neigt zu Gewaltausbrüchen. Beginnt zu trinken und ritzt sich in autoaggressiven Schüben wiederholt die Arme auf. Als er eines Tages die Kirche des Ortes in Brand setzt, wird er verhaftet und für zwei Jahre ins Gefängnis gesperrt. Nach seiner Rückkehr ist er fest entschlossen, ein angepasstes Leben zu führen. Aber nicht nur die Affäre mit seiner Stiefmutter lässt die Situation erneut eskalieren.
Sadie Jones folgt mit ihrem Roman einer Traditionslinie, die vom psychologisch-realistischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts bis zu den dramatischen Erzählungen Ian McEwans verläuft. Aus der Position der allwissenden Erzählerin schildert sie die Gefühle des persönlichkeitsgestörten Lewis und seines um einige Jahre jüngeren, weiblichen Pendants Kit ebenso subtil und überzeugend wie die seelischen Qualen der Erwachsenen.
Die Autorin beschreibt die Vorgänge aus der Perspektive ihrer Figuren, ohne als deren Schöpferin den Überblick zu verlieren. Immer wieder überrascht sie mit neuen Wendungen, so dass auf über 400 Seiten keine Sekunde Langeweile aufkommt. Psychologisch konsequent entwickeln sich ihre Protagonisten, und selbst Nebenfiguren erhalten ein eindrückliches Profil. Häufig offenbaren schon einzelne Sätze die Tiefendimension einer Szene, reißen schlagartig Bedeutungshintergründe auf. Sadie Jones’ Landschafts- und Stimmungsschilderungen ziehen in den Bann, ihre Dialoge sind klar konturiert und dabei voller Leben. Kein Wort zuviel, keines zu wenig. Es ist nicht verwunderlich, dass Sadie Jones mit ihren Drehbüchern nie Erfolgt gehabt hat. Wer so schreibt, ist einfach zu gut fürs Kino.
Rezensiert von Carsten Hueck
Sadie Jones: "Der Außenseiter".
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.
Schöffling Verlag, Frankfurt/M. 2008, 410 Seiten, 22,90 EUR